Erklärung des Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz
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Am 30. Juni wird sich die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes mit dem Verfahren „Lautsi gegen die Republik Italien" und den damit verbundenen Fragen hinsichtlich des Menschenrechts auf Religionsfreiheit befassen. Das erstinstanzliche Urteil über das Kreuz in öffentlichen Schulen, gegen das die Republik Italien Rekurs eingelegt hat, hat nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa großes Aufsehen und Kritik erregt. Erstmals in der Geschichte des EGMR haben sich 10 Mitgliedsstaaten des Europarats in dieser Sache als Drittkläger dem Rekus Italiens angeschlossen. Andere Staaten haben, ohne als „third party" in dieser Sache aufzutreten, das besagte Urteil kritisiert oder ablehnende Stellungnahmen dazu abgegeben. Dazu zählt auch die Republik Österreich.
Die Österreichische Bischofskonferenz hat sich bereits bei ihrer vorletzten Vollversammlung von 9. bis 12. November 2009 intensiv mit dem nicht rechtskräftigen Urteil des EGMR befasst und dazu eine öffentliche Erklärung des gesamten österreichischen Episkopats abgegeben. Darin wurde betont, dass das Kreuz-Urteil Anlass zu berechtigter Sorge gibt, auch wenn diese Entscheidung auf Österreich keine rechtlichen Auswirkungen hat, weil hier eine grundlegend andere völkerrechtliche und innerstaatliche Rechtslage besteht. Besorgniserregend und abzulehnen ist das erstinstanzliche „Kreuz-Urteil" deswegen, weil darin der Gerichtshof in doppelter Hinsicht zu Unrecht bestimmte Aspekte der Religionsfreiheit bevorzugt. Das ist einmal die individuelle gegenüber der kollektiven Seite der Religionsfreiheit sowie die negative gegenüber der positiven Dimension dieser Freiheit. In letzter Konsequenz führt diese einseitige Sicht des Gerichtshofes dazu, dass die individuelle Religionsfreiheit einzelner Personen das Recht auf kollektive, öffentliche Religionsübung aushöhlt. Denn Religionsfreiheit bedeutet im Kern vor allem das Menschenrecht, die religiöse Überzeugung einzeln oder gemeinsam, sowohl privat als auch öffentlich auszuüben - diese positive Sicht der Religionsfreiheit muss auch in Zukunft garantiert sein.
Das Kreuz als das christliche Grundsymbol bringt die religiöse Grundüberzeugung von Christen aller Konfessionen zum Ausdruck. Es ist ein vielschichtiges Symbol, das als solches auf Menschen keinen Zwang ausübt und keinen Menschen ausgrenzt. Vielmehr ist es ein Zeichen für das Leiden Jesu Christi und damit für die Erlösung der gesamten Menschheit auch von Leid und Gewalt. Im Kreuz verdichtet sich die Sinnfrage der menschlichen Existenz; es ist Zeichen einer letzten Hoffnung, denn das Kreuz führt auch zur Auferstehung.
Für jeden Menschen wird durch das Kreuz im öffentlichen Raum aber auch deutlich, dass hier Menschen wirken, die sich unter Gott wissen und sich selbst nicht zum Maß der Dinge erheben. Auch für die Andersgläubigen kann sich so eine unausgesprochene gemeinsame Basis des Vertrauens ergeben, die für das Zusammenleben sehr wichtig ist. Das Kreuz im Klassenzimmer öffentlicher Schulen ist somit auch ein Anknüpfungspunkt für den interreligiösen und interkulturellen Dialog, der in Europa auf der umfassend garantierten Religionsfreiheit gegründet ist.
Unabhängig vom Religionsbekenntnis ist für Europäer das Kreuz und die damit zum Ausdruck gebrachten christlichen Werte und Überzeugungen ein wesentlicher Teil der europäischen Kultur und Identität. Es geht bei der Frage nach dem Kreuz im öffentlichen Raum somit auch um den Erhalt und den Ausdruck der kulturellen Identität Europas. Die Bischöfe danken den vielen, die sich deutlich zur guten österreichischen Tradition bekennen, in der Religion grundsätzlich wertgeschätzt wird und die christlichen Wurzeln unserer Identität lebendig gehalten werden. Die Bischöfe erwarten, dass die Große Kammer des EGMR auf die schwerwiegenden Argumente der Staaten, die sich als Drittkläger am Verfahren beteiligen oder eine öffentliche Stellungnahme abgegeben haben, eingehen und sie würdigen wird. Das Kreuz ist als religiöses und kulturelles Symbol wertvoll für alle in Europa und darf nicht aus dem öffentlichen Raum verbannt werden.
Wien, am 29. Juni 2010
Kardinal Christoph Schönborn
Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz