Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreichs - Teil 1
Wortlaut des gemeinsamen Sozialhirtenbriefes vom 15. Mai 1990
EINLEITUNG
(1) Es ist Aufgabe der Bischöfe, "zu den Menschen zu gehen und das Gespräch mit ihnen zu suchen".[1] Dieses Wort des II. Vatikanischen Konzils hatten wir österreichischen Bischöfe vor Augen, als wir im Herbst 1988 zu einem Gespräch über einen in Aussicht genommenen Sozialhirtenbrief eingeladen haben.
(2) Die österreichischen Bischöfe haben nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals sowohl einzeln als auch gemeinsam zu wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Fragen Stellung genommen. Wir erinnern an den Katholikentag von 1952 mit seinen grundsätzlichen Überlegungen über eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft und der Forderung an die Kirche, ihre Verantwortung für die Gesellschaft wahrzunehmen. Als Österreich 1955 seine Freiheit wiedererlangt hatte, entschlossen sich die Bischöfe Österreichs zu einem gemeinsamen Sozialhirtenbrief. Als Papst Johannes XXIII. 1961 das bedeutende Rundschreiben Mater et Magistra veröffentlichte, haben die österreichischen Bischöfe in einem eigenen Sozialhirtenbrief diese Botschaft auf Österreich angewendet. Im Synodalen Vorgang von 1974 hat sich die Kirche in Österreich neu zum gesellschaftlichen Engagement verpflichtet.
(3) Dieser Sozialhirtenbrief erscheint zur Vorbereitung des 100-Jahre-Jubiläums des Sozialrundschreibens Rerum novarum. Papst Leo XIII. hat 1891 in diesem Rundschreiben die Kirche in einer Zeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs in ganz neuer Weise zur gesellschaftlichen Verantwortung aufgerufen. Die Welt von heute befindet sich wiederum in einem tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel. Angesichts dieses Wandels wäre - wie damals - das Stillschweigen eine Verletzung Unserer Pflicht".[2]
Es ist in einem Sozialhirtenbrief unmöglich, auf alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme Österreichs einzugehen. Wir haben uns deshalb entschlossen, einige Fragen herauszugreifen, die uns hinsichtlich einer menschengerechten Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft sowie eines Lebens in Solidarität und Verantwortung besonders bedeutsam erscheinen.
I. "DAS GESPRÄCH SUCHEN"
(4) Es war für uns eine erfreuliche Erfahrung, daß der Grundtext "Sinnvoll arbeiten - solidarisch leben"[3] ein so großes Interesse fand. Unsere Einladung zu einem vorbereitenden Gespräch zum Sozialhirtenbrief wurde bereitwillig angenommen. Rund 2.400 Stellungnahmen wurden uns zugesandt, an deren Abfassung mehr als 15.000 Personen beteiligt waren. Darüber hinaus haben viele an Gesprächsgruppen und Veranstaltungen teilgenommen. Die Medien berichteten eingehend über den Verlauf der Diskussionen. Dies hat uns gezeigt, wie viele Menschen in Österreich an der Lösung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme interessiert sind. Daß der Grundtext weniger auf die positiven Aspekte unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation einging, sondern vor allem Probleme und Herausforderungen aufzeigte, lag in der Zielsetzung des Textes, das Gespräch zur sozialen Lage anzuregen.
Die Gespräche verliefen zumeist in einem Klima der Offenheit und Toleranz. Die Teilnehmer bekannten sich zwar eindeutig zur eigenen Position, waren aber auch bereit, andere Meinungen zu hören. Es hat sich in diesem Vorgang innerhalb der Kirche eine Gesprächskultur entwickelt, die in die Zukunft weist. In diesem Gesprächsprozeß zeigte sich ein wachsendes Interesse für die katholische Soziallehre. Es wurde deutlich, daß auch unter den Katholiken ein großer Nachholbedarf besteht. Wir Bischöfe wurden gebeten, in unserem Sozialhirtenbrief die katholische Soziallehre auf die aktuelle Situation anzuwenden. Dieser Wunsch ist für uns mit ein Grund, in unserem Hirtenwort immer wieder auf die Sozialrundschreiben der Päpste und auf die sozialen Aussagen des II. Vatikanischen Konzils einzugehen.
(5) Für Inhalt und Ergebnisse des Diskussionsprozesses verweisen wir auf die Dokumentation "Sinnvoll arbeiten - solidarisch leben. Zusammenfassung der Stellungnahmen"[4]. Die Diskussion zum ersten Themenschwerpunkt "Sinnvoll arbeiten" erbrachte eine breite Übereinstimmung: Arbeit und Wirtschaft befinden sich auch in Österreich in einem tiefgreifenden Umbruch. Deshalb ist es notwendig, nach neuen Orientierungen zu suchen, und zwar nicht nur nach solchen wirtschaftlich-technischer, sondern auch sozialer und ethischer Art. Durch viele Beispiele aus dem Leben einzelner wie auch Gruppen wurden wir auf neue Formen von Diskriminierung und Unrecht in der Arbeitswelt aufmerksam gemacht. Keineswegs einheitlich war die Beurteilung der geschilderten Situation und die Formulierung der Aufgaben für die Zukunft. Es gab beachtlich viele Stimmen, welche die im Grundtext vorgelegte Analyse als zutreffend bezeichneten und tiefgreifende Reformen verlangten. Es gab aber auch solche, die eine Reihe von dort gegebenen Perspektiven als utopisch kritisierten.
Für unseren Hirtenbrief war es bedeutsam, daß im Vorbereitungsprozeß auch auf Themen hingewiesen wurde, die im Grundtext fehlten oder zu kurz behandelt wurden: zum Beispiel die Rolle des Unternehmers, die neue technische Revolution sowie die tiefgreifende Problematik der Umwelt.
Eine Reihe von Stellungnahmen machte deutlich, daß für viele Menschen die Sinngebung für Arbeit und Wirtschaft nicht aus dem Glauben kommt. Die Kluft zwischen Religion und Arbeitswelt hat sich anscheinend vertieft. Es braucht eine neue Begegnung zwischen Kirche und Welt der Arbeit. Dieser Wunsch ist durch einen Hirtenbrief allein nicht zu erfüllen. Es bedarf vielmehr erneuter Anstrengungen in der Pastoral für die Menschen in der Arbeitswelt.
(6) Die Auseinandersetzung mit dem zweiten Zentralthema "Solidarisch leben" ergab eine weitere Übereinstimmung: All das, was mit Arbeit und Wirtschaft zusammenhangt, hat auch eine "technische Seite". Es gibt sachliche Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten, die berücksichtigt werden müssen. Aber diese Eigenständigkeit ist relativ: Denn Arbeit und Wirtschaft stehen in einem sittlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang.[5] Darum wurde im Vorbereitungsprozeß immer wieder die Notwendigkeit einer neuen Solidarität ausgesprochen; einer Solidarität, die es nicht zuläßt, daß einzelne und Gruppen wirtschaftlich diskriminiert und vom gesellschaftlichen Leben ausgeklammert werden.
Unterschiedlich waren die Auffassungen über das Ausmaß des Verlustes an Solidarität und über den Weg, sie neu zu begründen und zu verwirklichen. Einerseits spürten wir mehr die Tendenz zur Stärkung - aber nicht notwendig zur Ausweitung - des Sozialstaates, andererseits wurden vorrangig Eigenverantwortung und Selbstregulierung durch gesellschaftliche Mechanismen betont. Auch hier wurden neue Themen vorgeschlagen und Ergänzungen gewünscht: zum Beispiel über die Jugend, über alte und kranke Menschen, über neue gesellschaftliche Randschichten. Wiederholt wurde der Wunsch geäußert, es möge auf Sinnfragen, auf sittliche Werte und Ziele eingegangen werden. Es ist bezeichnend, daß diese Anfragen gerade auch von jungen Menschen kamen, und nicht bloß von praktizierenden Gläubigen, sondern auch von Menschen, die der Kirche fernstehen.
(7) Wir können mit diesen Beispielen aus der Diskussion keineswegs den Reichtum der Aussagen und Anregungen ausschöpfen, der im Vorbereitungsprozeß zum Ausdruck kam. In der Abfassung des Hirtenbriefes haben uns diese Stellungnahmen wertvolle Dienste geleistet. Wir sagen allen, die sich an diesen Gesprächen beteiligt haben, ein herzliches Wort des Dankes. Dieser Dank gilt in besonderer Weise denen, die an der Vorbereitung und Durchführung dieses Projektes mitgearbeitet haben.
II. DER WEG DES MENSCHEN IN ARBEIT UND WIRTSCHAFT
Am Beginn unseres Sozialhirtenbriefes wollen wir ein klärendes Wort über das Anliegen dieses Hirtenwortes sagen.
1. Der Dienst unseres Hirtenwortes
(8) Es ist Aufgabe der Kirche, der Menschheit "die Liebe Gottes und das ihr durch Christus geschenkte Heil"[6] zu verkünden. Geschaffen nach dem Bild und Gleichnis des liebenden Gottes, ist der Mensch für ein Leben bestimmt, das in seiner Fülle über diese Welt hinausweist. Darum betont das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich: "Die Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich ... nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an."[7]
Das den Menschen zugesagte Heil wird als freies Geschenk Gottes empfangen. Gleichzeitig aber entscheidet sich seine Verwirklichung im Leben des Christen inmitten der Welt: Indem er in der Liebe und Gnade des dreifaltigen Gottes fähig wird, das Gute zu tun und das Böse zu bekämpfen. Diese Lebensaufgabe ereignet sich auch im konkreten Alltag: im Zusammenleben, in der Arbeit, in der Freizeit.
(9) Die Kirche hat den Auftrag, den Menschen nicht nur das von Christus geschenkte Heil zu verkünden, sondern sie auch wegweisend in der Verwirklichung dieses Zieles zu begleiten. Sie hat das Recht und die Pflicht, den Menschen für die Gestaltung ihres konkreten Lebens sittliche Orientierung und geistliche Hilfe anzubieten. Die geschichtlich gewachsenen Formen von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft üben einen entscheidenden Einfluß auf das sittliche Handeln des Menschen aus. Sie können es erleichtern und fördern, sie können es auch behindern und gefährden. Es gibt gesellschaftliche Situationen, die es einer "ungeheuer großen Zahl von Menschen" außerordentlich schwer machen, "ihr ewiges Heil zu wirken".[8]
Die Kirche hat in den vergangenen hundert Jahren eine Reihe von Sozialrundschreiben veröffentlicht, um den Menschen in der Ordnung des gesellschaftlichen Lebens "nach dem Heilsplan der Frohbotschaft"[9] die sittlichen Grundsätze zu vermitteln. Diese Grundsätze entspringen letztlich "der christlichen Lehre vom Menschen".[10]
(10) Wenn die Kirche aufgrund ihrer religiösen Sendung den Anspruch erhebt, für das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben sittliche Weisungen zu geben, anerkennt sie zugleich die Grenze ihrer Zuständigkeit. Sie macht keine Aussagen darüber, mit welchen Mitteln die den Menschen vorgegebenen Ziele am erfolgreichsten zu verwirklichen sind. Die Kirche muß aber Einspruch erheben, wenn Mittel angewendet werden, die dem Sittengesetz und dem Evangelium widersprechen.
In unserem Hirtenwort werden wir immer wieder auf die Grundsätze der katholischen Soziallehre zurückgreifen. Es genügt dabei nicht, allgemeine sittliche Grundsätze zu verkünden. Die Kirche muß sich auch dafür einsetzen, daß diese verwirklicht werden. Das verlangt eine Anwendung auf die verschiedenen Situationen in den Teilkirchen. "Sie müssen die Verhältnisse ihres jeweiligen Landes objektiv abklären, müssen mit dem Licht der unwandelbaren Lehre des Evangeliums hineinleuchten ..., (um) darüber zu befinden, welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen."[11]
(11) Wir haben diesen Auftrag im Dialog des Vorbereitungsprozesses aufgegriffen und wollen ihn in unserem Hirtenwort weiterführen. Wo es um die Anwendung sittlicher Grundsätze geht, wird es Meinungsverschiedenheiten geben. Darum unterscheiden wir in unserem Hirtenwort zwischen der Verbindlichkeit der sittlichen Grundsätze und den Maßnahmen zur Umsetzung.
(12) Die Verwirklichung der katholischen Soziallehre hangt wesentlich vom Einsatz unserer Brüder und Schwestern ab. Ihre Aufgabe ist es, die Kirche "an jenen Stellen und in den Verhältnissen anwesend und wirksam zu machen, wo die Kirche nur durch sie Salz der Erde werden kann".[12] Darum soll unser Sozialhirtenbrief für ihren Einsatz eine Ermutigung, aber auch Orientierung sein. Wir wünschen sehr, daß die Christen nach konkreten Wegen suchen, die sittlichen Prinzipien gegenwarts- und zukunftsbezogen in die Praxis umzusetzen.
Vom selben Evangelium inspiriert, können Christen bei der Suche nach konkreten Lösungen zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen. Die Kirche anerkennt diese Tatsache, verlangt aber, daß sich jeder Christ in diesem Bemühen ernsthaft mit ihren sozialen Weisungen auseinandersetzt, ohne aber die Autorität der Kirche ausschließlich für die eigene Meinung in Anspruch zu nehmen.[13]
(13) Die menschengerechte Gestaltung von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft hat eine große Bedeutung für das Reich Gottes, das alle menschlichen Bemühungen um Gerechtigkeit übersteigt. Die Wirklichkeit der Sünde erweist die Machbarkeit eines innerweltlichen Paradieses als Illusion. Sie wirkt im persönlichen Verhalten wie auch in den "Strukturen der Sünde"[14] hemmend, störend und zerstörend. Durch Christi Tod und Auferstehung ist jedoch die Macht der Sünde gebrochen. Der Mensch wird frei zum Einsatz für die Gerechtigkeit, deren Vollendung er in Gott erwartet. In solcher Freiheit und endzeitlicher Hoffnung gründet der gesellschaftspolitische Einsatz der Christen. Religiöse Sendung und gesellschaftliche Verantwortung sind darin zuinnerst verbunden.
Diese gesellschaftliche Verantwortung verbindet Christen mit allen Menschen in der Sorge um eine menschengerechte Gestaltung von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinsam müssen wir uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen.
2. Glaube, Arbeit und Wirtschaft
(14) Wenn die Kirche über Arbeit und Wirtschaft spricht, dann geht es ihr nicht zuerst um Investitionen und Rentabilität, um Kosten und Gewinn. Arbeit und Wirtschaft haben für sie wesentlich mit dem "Plan Gottes mit den Menschen"[15] zu tun. Sein Auftrag, die Erde "zu bebauen und zu behüten" (Gen 2,15), enthält einen Lebensentwurf: Im verantwortungsbewußten Gestalten der Erde entfaltet der Mensch das, was Gott mit der Welt vorhat.
Indem der Mensch auch durch seine Arbeit an der Vollendung des Werkes Gottes mitwirkt, verschafft er sich nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern entfaltet zugleich sich selbst. Im schöpferischen Tun weckt er die verborgenen Talente, die der Schöpfer ihm geschenkt hat. Durch die Arbeit verwirklicht der Mensch nicht nur den Plan Gottes mit der Welt, sondern auch den Plan Gottes mit den Menschen: mehr Gott ähnlich werden, "mehr Mensch werden".[16]
(15) Diese persönliche Seite der menschlichen Arbeit hat aber gleichzeitig eine zwischenmenschliche Bedeutung. Sie verwirklicht sich zuerst in ihrer Beziehung zu Ehe und Familie. Die Hinordnung der Arbeit auf die materielle Sicherung der Familie, die Sorge für die Zukunft der Kinder haben einen entscheidenden Einfluß auf die Sinngebung und Sinnerfahrung der Arbeit. Die soziale Dimension der Arbeit hat aber ganz wesentlich auch eine Beziehung zum Dienst am Gemeinwohl. Durch seine Arbeit trägt der Mensch dazu bei, daß die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, damit alle ein menschenwürdiges Leben führen können.[17] Wer nicht erlebt, daß er sich durch seine Arbeit für andere nützlich macht, beginnt nur allzuleicht an seinem Selbstwert zu zweifeln. Zugleich fehlt ihm dann auch die gesellschaftliche Anerkennung.
(16) Dieses religiös-ethische Grundwissen über die Würde der menschlichen Arbeit erhält für den Christen durch Christus eine neue Tiefe. Gott ist in Jesus Christus unmittelbar in die Welt der Arbeit eingetreten. Das Wort der Bibel, er war "der Sohn des Zimmermanns" (Mt 13,55), ist reich an Bedeutung. Jesus selber hat durch seine Arbeit ein Stück Welt mitgestaltet und damit die Arbeit mit einem neuen religiösen Sinn erfüllt. Durch sein Sterben am Kreuz hat er all das erlöst, was der Mensch als Folge der Erbsünde an Entfremdung und an Unheil in der Welt der Arbeit erfährt. Die vom Glauben her verstandene und verrichtete Arbeit dient trotz aller weiterbestehenden innerweltlichen Mühsal nicht nur zur Verwirklichung des eigenen Heiles, sondern auch zur Verwirklichung eines neuen Himmels und einer neuen Erde.
(17) Grundlegend für die Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft ist die Aussage des II. Vatikanischen Konzils: Das eigentliche Ziel der Wirtschaft besteht "weder in der vermehrten Produktion als solcher noch in der Erzielung von Gewinn oder Ausübung von Macht, sondern im Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt. Das gilt ausdrücklich für alle Menschen und für jeden einzelnen ... ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel der Wirtschaft."[18] Aus diesem Grundverständnis der Wirtschaft ergeben sich drei Folgerungen:
(18) Erstens: Nach der katholischen Soziallehre besteht das Ziel der Wirtschaft nicht in einem beliebigen, grenzenlosen Wachstum, sondern in der Versorgung der Menschen mit preiswerten Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs: ausreichende Nahrung, Kleidung und menschenwürdiges Wohnen zählen dazu. Worin dieser Bedarf des Menschen näherhin besteht, kann nicht für alle gleich verpflichtend festgeschrieben werden. Trotz dieser Offenheit ergeben sich aber aus der körperlich-geistigen Einheit des Menschen Grundorientierungen und Grundverpflichtungen für den Wirtschaftsprozeß - auch in der Verpflichtung für die Lebenschancen der kommenden Generationen und für die Erhaltung der Schöpfung.
(19) Zweitens: Der Mensch als Person ist "Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft"18a. Für die Gestaltung des Wirtschaftsprozesses ist darum nicht zuerst der Staat, sondern die Initiative der einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen zuständig. Das Recht auf persönliches Eigentum und wirtschaftliche Initiative gehört somit zu den Menschenrechten.[19] Die Vielfalt der Einzelinitiativen und Einzelinteressen führt aber nicht automatisch zur Verwirklichung des Gesamtzieles der Wirtschaft: Dienst am Menschen und an allen Menschen. Darum braucht es das gestalterische Handeln des Staates, um den Wirtschaftsprozeß auf das Gemeinwohl hinzuordnen, einen Ausgleich zwischen Leistungsstarken und Leistungsschwachen zu schaffen und Unrecht abzubauen oder zu verhindern.
(20) Drittens: In der Wirtschaft geht es nicht nur um die Bereitstellung von Gütern und Diensten, sondern wesentlich um die Zusammenarbeit von Menschen. Die soziale Ausgestaltung des Wirtschaftsprozesses gehört deshalb zu den zentralen Aufgaben einer menschengerechten Wirtschaftsordnung. Das schließt keineswegs aus, daß die Erstellung von Gütern und Diensten ihre Sachgesetze hat. Wo aber nach Gottes Bild geschaffene, freie, selbstverantwortliche Personen im Wirtschaftsprozeß zusammenarbeiten, sind die Achtung vor der Würde des Menschen, das Recht auf Mitverantwortung und Mitbestimmung und die Vermenschlichung der Arbeitswelt vorrangig.
(21) Diese von der menschlichen Vernunft und vom Glauben her vorgegebene Zielbestimmung von Arbeit und Wirtschaft verpflichtet die Kirche, Wirtschaftssysteme und Wirtschaftspraxis dahin zu überprüfen, ob sie die Erreichung dieser Ziele ermöglichen und fördern oder sie behindern und verhindern.
Die Kirche hat von ihrem Menschenbild her wiederholt zu Wirtschaftssystemen und wirtschaftlicher Praxis Stellung bezogen. Sie hat den liberalistischen Kapitalismus des vergangenen Jahrhunderts abgelehnt, weil er für ein "nahezu sklavisches Joch"[20] des Proletariates verantwortlich war. Sie hat das kollektivistische Wirtschaftsystem verurteilt, weil es die Person des Menschen zu einem Objekt entwertete.[21] Die Kirche muß aber auch zu anderen Wirtschaftssystemen ihre kritische Stimme erheben, wenn sie überzeugt ist, daß einzelne Menschen oder gesellschaftliche Gruppen in ihren Rechten bedroht sind. Solche Kritik erfolgt in der Überzeugung: Nur eine menschengerechte Wirtschaft kann auf weite Sicht gesehen eine sachgerechte Wirtschaft sein.
(22) Wenn wir in unserem Sozialhirtenbrief zu konkreten Fragen der Arbeit und Wirtschaft in unserem Land Stellung nehmen, dann tun wir das in der gleichen Absicht. Wir sagen es in Anerkennung alles dessen, was auf wirtschaftlichem Gebiet in den Nachkriegsjahren geschaffen wurde. Wir denken dabei an die schweren Zeiten des Wiederaufbaues, der in entscheidender Weise auch durch Opferbereitschaft und Sinn für das Gemeinwohl von Seiten der Arbeitnehmer ermöglicht wurde. Wir anerkennen den Beitrag der Gewerkschaften für den wirtschaftlichen und sozialen Aufbau und für die Erhaltung des sozialen Friedens.
Ohne die solidarische Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wie sie sich in Österreich in der Sozialpartnerschaft bewährt hat, wäre es unmöglich gewesen, den heutigen Wohlstand und die soziale Sicherheit zu erwirtschaften. Wir anerkennen darum nicht weniger all das, was durch das verantwortliche Handeln der Unternehmer geschaffen wurde. Insbesondere verweisen wir dabei auf die eindrucksvollen Leistungen der vielen Klein- und Mittelbetriebe, die nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht zum Fortschritt und sozialen Frieden unseres Landes entscheidend beigetragen haben.
(23) Arbeit und Wirtschaft in Österreich stehen vor großen Herausforderungen. Die wissenschaftlich-technischen Innovationen zwingen zu massiven Strukturveränderungen und Anpassungen innerhalb der einzelnen Wirtschaftszweige und infolge dessen zu großen beruflichen Veränderungen innerhalb der arbeitenden Bevölkerung. Die Internationalisierung der Märkte bedeutet auf der einen Seite eine Verschärfung der Konkurrenz und Bedrohung der kleineren Wirtschaftseinheiten, auf der anderen Seite neue wirtschaftliche Chancen. Die Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hat auch für Österreich tiefgreifende Folgen und bedeutet eine Herausforderung für die Sozialpartner. Sie muß von ihnen mit sachkundigen wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen beantwortet werden. Dazu braucht es auch den Willen zur Selbstkritik und die Bereitschaft zu jeweils neuen Initiativen. Es braucht aber ebenso ethische Orientierungen sowohl für die Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen als auch für das Verhalten der Menschen.
(24) Österreich braucht Unternehmer, die über hohe Sachkompetenz verfügen; Unternehmer, die nicht nur die wirtschaftlichen Notwendigkeiten von heute erkennen, sondern auch die Entwicklung von morgen mitberücksichtigen und den Mut zu unternehmerischem Risiko besitzen. Österreich braucht aber auch Unternehmer, die über ein hohes Maß an sozialer Kompetenz und Initiative verfügen; Unternehmer, die in den Arbeitnehmern nicht Produktionsfaktoren, sondern Mitarbeiter sehen; Unternehmer, die imstande sind, ein Betriebsklima zu schaffen, das den Arbeitnehmern die Überzeugung gibt, "in eigener Sache"[22] zu arbeiten. Dazu gehört wesentlich die Möglichkeit der Mitverantwortung und Mitbestimmung. Wer produktive Arbeit leistet, soll auch imstande sein, "den Gang der Dinge mitzubestimmen".[23]
Bei all dem können sich Unternehmer nicht auf die Lösung rein ökonomischer Probleme beschränken, wie etwa Produktionsverfahren und Absatzstrategien. Sie müssen auch bereit sein, Verantwortung für das Gemeinwohl auf nationaler und internationaler Ebene zu übernehmen. In ihren wirtschaftlichen Entscheidungen sind immer auch die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen mitzuberücksichtigen: die Bewältigung des Problems der Arbeitslosigkeit, die Erhaltung des sozialen Friedens, die Sorge für die Anliegen der Jugend und die Verantwortung für die Umwelt. Für die katholische Soziallehre gilt darum: Der verantwortungsbewußte Unternehmer soll nicht nur sachgerecht, sondern immer auch menschengerecht und gesellschaftsgerecht handeln. Diese Aussage soll nicht bloß als Appell für die Zukunft, sondern auch als Anerkennung der bisherigen Bemühungen verstanden werden.
(25) Österreichs Wirtschaft braucht nicht weniger den Beitrag der Arbeitnehmer, die ihre Verantwortung in der Welt der Wirtschaft wahrnehmen. Dies beinhaltet nicht nur den persönlichen Einsatz im Arbeitsprozeß, sondern auch die Mitverantwortung für die Gestaltung der Gesamtwirtschaft. Seit ihrem ersten Sozialrundschreiben hat die Kirche das Recht der Arbeitnehmer auf eine unabhängige Organisation verteidigt. Sie hat dieses Recht auch in den folgenden Rundschreiben gefordert. Im Rundsehreiben über die menschliche Arbeit bezeichnet Johannes Paul II. die Organisation der Arbeitnehmer als "unentbehrliches Element des gesellschaftlichen Lebens".[24]
Die Kirche kennt eine zweifache Aufgabe der Organisation der Arbeitnehmer. Sie muß einerseits die "berechtigten Forderungen" der Arbeitnehmer in allen Bereichen, wo ihre Rechte ins Spiel kommen, wirksam vertreten.[25] Sie muß andererseits auch einen "wirksamen Beitrag" zur Gestaltung des Wirtschaftslebens leisten.[26]
Die Verwirklichung dieser zweifachen Aufgabe kann zu Spannungen und Konflikten führen. Schon das Sozialrundschreiben Quadragesimo anno spricht von der Möglichkeit und sogar Notwendigkeit des "Kampfes" zur 'Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit. Der große Unterschied gegenüber der marxistischen Theorie des Klassenkampfes besteht darin, daß die bestehenden Gegensätze nicht als unüberwindbar betrachtet werden. Es wird klar erkannt, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufeinander angewiesen sind. Der Kampf wird "im Hinblick auf das Gut der sozialen Gerechtigkeit" geführt, zur "Durchsetzung berechtigter Ansprüche".[27] Das darf allerdings nicht in der Haltung eines Gruppen- oder Klassenegoismus und auch nicht in bloßer Abhängigkeit von den Willensentscheidungen politischer Parteien geschehen, sondern im Dienst am Gemeinwohl des ganzen Landes.
Wenn wir heute von neuen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen und von einer neuen sozialen Frage sprechen, dann hoffen wir, daß die Gewerkschaften, in denen viele Menschen aus christlicher Verantwortung mitarbeiten, diese "Zeichen der Zeit" in ihrem Aktionsprogramm berücksichtigen.
(26) Der wirtschaftliche Aufstieg und der soziale Friede unseres Landes wurde wesentlich durch den Aufbau und Ausbau einer neuen politischen Kultur mitgestaltet. Die demokratische Grundverfassung unseres Staates bildete die Voraussetzung und Garantie dafür, daß auch im Bereich der Wirtschaft und Gesellschaft demokratische Prozesse in Gang gesetzt werden konnten. Wenn wir heute den Beitrag der Sozialpartner zur Vermenschlichung von Arbeit und Wirtschaft anerkennen, dann gilt diese gleicher Weise den politischen Kräften unseres Landes. Wir wissen aus Vergangenheit und Gegenwart um die Bedrohungen der demokratischen Ordnung. Darum wollen wir es nicht bloß bei einem Wort der Anerkennung belassen. Wir appellieren vielmehr an die Mitverantwortung der Christen für die Erhaltung und den Ausbau unseres demokratisch verfaßten Staates.
Die demokratische Reife einer Gesellschaft zeigt sich gerade am Umgang mit Minderheiten, wie sie Rechte und kulturelle Eigenart ethnischer Gruppen anerkennt und fördert. Bei aller berechtigten Sorge von Minderheiten um die Erhaltung ihres Volkstums werden sie ihrerseits bemüht sein, am Gesamtwohl der Gesellschaft solidarisch mitzuwirken.
3. Mehr Mensch werden in Arbeit und Wirtschaft
(27) Heute wird viel vom Wandel des Sinnes der Arbeit gesprochen. Manche sind der Meinung, Erwerbsarbeit sei nur noch ein notwendiges Übel, die menschliche Entfaltung werde oft nur in der Freizeit gesucht. Andere anerkennen durchaus, daß die Freizeit eine neue Bedeutung erhalten habe und daß die Erwerbsarbeit keineswegs den einzigen Lebenssinn darstelle. Trotzdem sei sie für viele auch heute noch ein zentraler Wert für Lebenssinn und Lebenserfüllung.
(28) Weil die menschliche Arbeit wesentlich mit einem Auftrag Gottes verbunden ist, gibt es sowohl ein Recht,[28] wie auch eine Pflicht zur Arbeit. Das Recht, das besagt, daß den Menschen der Zugang zur Arbeit nicht verwehrt werden darf. Die gesellschaftlichen Kräfte und der Staat sind dazu verpflichtet, wirtschaftliche Voraussetzungen zu schaffen, aufgrund derer der Mensch Arbeit finden kann. Denn durch die persönliche Arbeit verschafft der Mensch sich selber und seiner Familie den Lebensunterhalt und trägt unmittelbar zum Gemeinwohl bei. Es gibt aber auch eine Pflicht zur Arbeit, welche in vielen Fällen Erwerbsarbeit sein wird, die in Gewissenhaftigkeit, Leistungsbewußtsein und Verantwortung zu verrichten ist.
(29) Zweifellos gibt es in Österreich viele Menschen, die mit ihrer Arbeit zufrieden sind, die ganz zu ihrem Betrieb stehen und das vielfältige Entgegenkommen von Seiten der Betriebsleitung zu schätzen wissen. Wir begegnen aber auch Aussagen, die uns besorgt machen. Es handelt sich dabei nicht um seltene Ausnahmen, sondern um eine beachtliche Zahl. Männer, Frauen und Jugendliche klagen über Arbeitszeiten, welche die gesetzlich festgelegten Normen bei weitem überschreiten. Leistungsdruck und Arbeitsstreß werden zu einer Bedrohung der Gesundheit. Akkord oder stundenlange Bildschirmarbeit führen nicht selten zu körperlich-geistiger Überbelastung mit gesundheitlichen Dauerschäden. Unhygienische Arbeitsbedingungen widersprechen nicht nur dem Gesetz, sondern auch der Menschenwürde. Aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes werden Situationen in Kauf genommen, die eine schwere Belastung darstellen. Wir hören da und dort von einer Entlohnung, die in keinem Verhältnis zur geleisteten Arbeit steht. Es werden gelegentlich Formen von Anstellungen und Entlassungen praktiziert, die Sonderzahlungen und Urlaubsansprüche umgehen. Pendler sind besonderen Belastungen ausgesetzt und leiden schwer an den verkürzten Kontakten zur eigenen Familie und an der Verarmung anderer sozialer Beziehungen. Wir wissen von politischem Gesinnungsdruck, dem man sich unterwerfen muß, um den Arbeitsplatz zu behalten und beruflich weiterzukommen.
(30) Eine besondere Bedeutung hat im Leben vieler Menschen, denen wir begegnen, das soziale Klima am Arbeitsort. Selbst schwere und eintönige Arbeit wird nicht als Dauerbelastung empfunden, wenn am Arbeitsplatz unter der Belegschaft ein gutes Klima besteht und die einzelnen bei der Betriebsleitung Achtung und Anerkennung finden. Man wird über Vorgänge im Betrieb informiert, kann Mitverantwortung tragen und mitbestimmen. Wir hören aber auch von Enttäuschung und Verbitterung. Nicht wenige klagen über ein schlechtes Betriebsklima. Es bestehen Spannungen und Rivalitäten innerhalb der Belegschaft, Arbeitnehmer werden gegeneinander ausgespielt. Wo keine Möglichkeit zu Mitverantwortung und Mitbestimmung besteht, fehlt dem Menschen die Beziehung zum Betrieb, und er empfindet die Arbeit als schwere Last. Verbitterung am Arbeitsort wirkt nicht zuletzt hinein ins Familienleben und in die Freizeitgestaltung.
(31) In seinem Rundschreiben über die menschliche Arbeit sagt Johannes Paul II.: "Wenn der Mensch arbeitet und sich dabei aller verfügbaren Produktionsmittel bedient, so möchte er zugleich, daß die Früchte dieser Arbeit ihm und anderen zugute kommen und daß er bei diesem Arbeitsprozeß Mitverantwortlicher und Mitgestalter an dem Arbeitsplatz sein darf, an dem er tätig ist."[29] Wir teilen die Sorge und die Enttäuschung vieler unserer Brüder und Schwestern darüber, daß in unserem Land die soziale Ausgestaltung von Arbeit und Wirtschaft hinter dem technisch-wirtschaftlichen Fortschritt oft zurückbleibt.
(32) Pauschalurteile wären unberechtigt. Wir wissen, daß sich manche Betriebe in Schwierigkeiten befinden und daher von der Belegschaft Verständnis und Opfer verlangen müssen. Wir wissen ebenso, daß manches Entgegenkommen mißdeutet und mißbraucht werden kann. Trotzdem erheben wir unsere Stimme für Vermenschlichung von Arbeit und Wirtschaft und können feststellen, daß wir in diesem Anliegen nicht alleingelassen sind. Mehr denn je wird klar: eine menschengerechte Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft führt auf weite Sicht auch zum bestem wirtschaftlichen Erfolg.
4. Arbeitslosigkeit
(33) Arbeitslosigkeit zählt zu den Geißeln der modernen Menschheit. Den von ihr Betroffenen schafft sie schwere, in Einzelfällen unerträgliche Belastungen. Trotz anhaltend günstiger Konjunktur und beachtlichen Wirtschaftswachstums ist es nicht gelungen, das Problem der Arbeitslosigkeit befriedigend zu lösen. Sicher ist die Situation der Arbeitslosigkeit nicht überall die gleiche. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen aber ist deutlich angestiegen und hat sich verfestigt.
(34) Unsere Sorge um die von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen entstammt letztlich dem religiösen Anliegen. Nach Aussage der Bibel ist die Verpflichtung, die Erde zu gestalten, an alle Menschen ergangen. Darum ist es sittlich unzulässig, wenn eine beachtliche Gruppe von Menschen keinen Zugang zur Erwerbsarbeit findet. Diese Tatsache wird zu einer gesellschaftlichen Bedrohung, wenn es sich um junge Menschen handelt, denen schon der Einstieg in die eigene Lebensgestaltung und gesellschaftliche Mitverantwortung unmöglich gemacht wird. Selbst wenn den Arbeitslosen ein Existenzminimum zugesichert ist: das größere sittliche Problem besteht darin, daß Menschen aus der Beteiligung am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß schuldlos ausgeklammert werden, mit all den Folgen für die Erfüllung des an jeden einzelnen ganz persönlich ergangenen Auftrages. Darum ist ein gesellschaftlicher Zustand, der Menschen von der Arbeit ausschließt, als menschenunwürdig zu bezeichnen.[30]
(35) Gewiß ist das Problem der Arbeitslosigkeit äußerst komplex. Es kann auch menschliches Versagen eine Rolle spielen. Die Kirche anerkennt alle ernsten Bemühungen, dieses schwerwiegende soziale Problem zu lösen. Wir Bischöfe fühlen uns aber verpflichtet, eindringlich unsere Stimme zu erheben, weil wir den Eindruck haben, als hätte man sich mit einer bestimmten Arbeitslosenrate bereits abgefunden. Wir wissen um Krisen in Ehen und Familien, die durch die Arbeitslosigkeit ausgelöst oder verschärft werden. Wir kennen das Leid älterer Arbeitnehmer, die nach jahrelanger, treuer Arbeit unter einem wirtschaftlichen Vorwand entlassen wurden und keine Arbeit mehr finden. Wir begegnen Menschen, die man zu schnell als "nicht mehr vermittelbar" einstuft und den gesellschaftlichen Problemgruppen zuordnet, obwohl ihnen eine sorgfältigere Umschulung und Weiterbildung vielleicht eine neue Einstiegschance in die Arbeit ermöglichen könnte. Viele unserer Arbeitslosen machen die schmerzliche Erfahrung, daß sie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich isoliert werden. Es droht ein Zerbrechen der Solidarität zwischen den Arbeitslosen und jenen, die einen Arbeitsplatz besitzen.
(36) Am meisten Sorge machen uns Resignation und Abgestumpftheit der Arbeitslosigkeit gegenüber. Gegen diese Haltungen muß sowohl von seiten der gesellschaftlichen Kräfte, als auch von seiten des Staates angekämpft werden. Auch unser Hirtenwort soll dazu beitragen. Wir dürfen die Arbeitslosigkeit nicht einfach als gegeben hinnehmen und unser Vertrauen allein auf den Marktmechanismus setzen.
Die Kirche darf es bei diesem so schwerwiegenden Problem nicht bei einem bloßen Appell belassen. Sie muß sich selber verpflichten, nicht zuletzt deshalb, weil die Kirche in Österreich selbst ein bedeutender Arbeitgeber ist. Auch wenn wir zahlenmäßig keine großen Erfolge aufweisen können, bewirken die von den kirchlichen Stellen unternommenen Initiativen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vor allem eine Bewußtseinsveränderung und Überwindung unchristlicher Gleichgültigkeit.
5. Lohn - Einkommen - Eigentum
(37) Grundüberzeugung der katholische Soziallehre ist es, "daß der wirtschaftliche Wohlstand eines Volkes weniger zu bemessen ist nach der äußeren Fülle von Gütern, über die seine Glieder verfügen, als vielmehr nach ihrer gerechten Verteilung, so daß alle im Land etwas davon für die Entfaltung und Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit erhalten; denn das ist das Ziel, auf das die Volkswirtschaft ihrer Natur nach hingeordnet ist".[31]
Heute wissen wir besser als früher, daß die Lohnfrage eine zentrale gesamtwirtschaftliche Frage darstellt. Von ihr hängt nicht nur das Los der Lohnempfänger ab. Sie hat einen entscheidenden Einfluß auf die Unternehmen und die Gesamtwirtschaft. Deshalb ist der gerechte Lohn "Prüfstein für die Gerechtigkeit des gesamten ökonomischen Systems".[32]
(38) In Österreich gibt es eine beachtliche Zahl von Menschen, deren Lohn nicht ausreicht, für sich selber und die eigene Familie einen Lebensunterhalt zu garantieren, der ein menschenwürdiges Leben im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten erlaubt. Wir dürfen es nicht hinnehmen, daß gerade Frauen in der Lohnbemessung in vielfacher Weise benachteiligt werden. Wir wissen um Fälle von Entlohnung von Flüchtlingen und Gastarbeitern, die als Ausbeutung zu bezeichnen sind. Es macht uns ebenfalls besorgt, wenn die Zuteilung von Lohn nicht ausschließlich aufgrund von Leistung, sondern aufgrund gesellschaftlicher Macht erfolgt. Gruppen, die Zugang zu gesellschaftlicher Macht besitzen, erhalten Vorteile und Privilegien. Andere, die diesen Zugang nicht haben, werden benachteiligt und an den gesellschaftlichen Rand gedrängt.
(39) Es gibt in Österreich Regionen, die über eine hohe Beschäftigung, sichere Arbeitsplätze und überdurchschnittliche Einkommen verfügen, und es gibt Gebiete, die sich aus einer Reihe von Gründen in ökonomischer Dauerkrise befinden. Selbstverständlich bestehen in jedem Land nicht nur persönliche, sondern auch regionale Unterschiede. Mit Recht ist zu fragen, ob übergroße Unterschiede und offenkundige Benachteiligungen mit einer Gesellschaftsauffassung übereinstimmen, die auf den Grundsätzen der Menschenwürde, der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität aufgebaut ist.
(40) Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde auch in Österreich viel über Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand gesprochen. Damals wurden mutige Schritte unternommen, diese Forderung einzulösen. In dem durchaus berechtigten Bemühen um die wirtschaftliche Mitbestimmung und um den Ausbau der sozialen Sicherheit trat auch in Österreich die Frage nach der Beteiligung der Arbeitnehmer an der volkswirtschaftlichen KapitaIbildung zurück. Dazu kam, daß Arbeitnehmer die Möglichkeit erhielten, Geldvermögen zu erwerben. Andere haben sich ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung geschaffen. Dennoch sollte das Anliegen der Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand nicht in den Hintergrund gedrängt werden.
Immer noch gilt das Wort des Sozialrundschreibens Quadragesimo anno: Man muß "mit aller Anstrengung dahin ... arbeiten, daß wenigstens in Zukunft die neugeschaffene Güterfülle nur in einem billigen Verhältnis bei den besitzenden Kreisen sich anhäufe, dagegen aber im breiten Strom der Lohnarbeiterschaft zufließe".[33]
Die Freiheit und Verantwortung der Person und damit auch die Freiheit und Verantwortung einer demokratisch verfaßten Gesellschaft dürfen nicht bloß in formalen Rechtsansprüchen bestehen, sondern müssen auch im persönlichen Eigentum begründbar sein. Freilich besagt das persönliche Eigentum nie ein absolutes Recht, sondern enthält immer auch eine soziale Verpflichtung: Das Recht auf Eigentum darf nie vom ursprünglichen Nutzungsrecht aller an den Erdengütern losgelöst werden.
6. Landwirtschaft
(41) Wenn wir von der Vermenschlichung der Arbeit und der Wirtschaft als sittlicher Grundforderung sprechen, dann gilt unsere besondere Sorge der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum. Die Bauern haben den Auftrag Gottes zum "Bebauen und Behüten" der Erde im wörtlichen Sinn zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht. Sie erfüllen in dieser Arbeit den Schöpfungsauftrag Gottes und erweisen dadurch der Menschheit einen unersetzlichen Dienst.
(42) Es kann nicht übersehen werden, daß sich die Landwirtschaft heute in Österreich in einer schweren Krise befindet, auch wenn sich diese Krise nicht überall in gleicher Weise darstellt. Nicht wenige Bauern klagen über einen massiven Einkommensschwund, der sie gegenüber anderen Bevölkerungsschichten benachteiligt. Eine Reihe von Bauern mußte schwere Verschuldungen auf sich nehmen. Eine große Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe wurde aufgelassen oder in Nebenerwerbsbetriebe umgewandelt. Der Mangel an Arbeitskräften führt zu Überbelastungen, insbesondere der Frauen. Wir stellen in der bäuerlichen Bevölkerung nicht selten eine Hoffnungslosigkeit fest, verbunden mit einer wachsenden Unsicherheit über die Zukunft der Landwirtschaft, besonders im Hinblick auf die Folgen des gemeinsamen Europäischen Marktes.
Wir wissen, daß sowohl von seiten der Landwirtschaft selber als auch von seiten der öffentlichen Hand mit allem Ernst an der Lösung der Agrarfrage gearbeitet wird, die heute ein europa-, ja weltweites Problem darstellt.
(43) Wir sind davon überzeugt, daß die bäuerlich strukturierte Landwirtschaft auch in Zukunft für die Versorgung der Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln die unmittelbare Verantwortung tragen soll. Dazu kommt aber als gleichwertige Aufgabe die Erhaltung und Pflege des ländlichen Naturhaushaltes und der natürlichen Lebensgrundlagen. Beide Leistungen müssen in engem Zusammenhang gesehen werden. Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen wie Boden, Wasser, Luft und Wald ist von solcher Bedeutung, daß sie nicht bloß einer rationellen Nahrungsmittelproduktion untergeordnet werden darf.
(44) Für den ländlichen Raum hat eine lebensfähige bäuerliche Landwirtschaft besondere Bedeutung. Die Bindung an das persönliche Eigentum hat eine wesentliche gesellschaftsstiftende Aufgabe; persönliche Verantwortung und Initiative werden zur alltäglichen Erfahrung. Der bäuerliche Familienbetrieb erbringt Leistungen, die nicht nur in wirtschaftlichen Größen, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gemessen werden müssen. Trotz allem Wandel in der bäuerlichen Wirtschaft und im ländlichen Raum gibt es dort noch bedeutende kulturelle Werte: nachbarschaftliche Beziehungen erfahrbare Solidarität, religiöse und kulturelle Gemeindebildung. Sie dürfen in ihrer Auswirkung auf die Gesamtgesellschaft nicht unterschätzt werden.
(45) Daraus ergibt sich die Gemeinwohlbezogenheit der heutigen Agrarfrage. Die Lösung der Krise der Landwirtschaft kann nicht ausschließlich der ländlichen Bevölkerung aufgelastet, aber auch nicht dem bloßen Mechanismus des Marktes überlassen werden. Selbstverständlich werden auch die Bauern und ihre Berufsvertretungen ihren Beitrag leisten und sich um situationsgemäße Formen der Partnerschaft und Solidarität untereinander bemühen müssen. Das wird gerade für die Einrichtungen der bäuerlichen Selbsthilfe eine neue Herausforderuflg darstellen und sie zu einer Überprüfung und Neubesinnung verpflichten. Es besteht die Gefahr, daß Einrichtungen, die seinerzeit zur Selbsthilfe der Bauern gegründet wurden, mehr und mehr zum Selbstzweck werden.
(46) Einen Strukturwandel hat es in der Landwirtschaft immer wieder gegeben, und er wird gerade im Blick auf die neu entstehenden größeren Wirtschaftsräume auch heute gefordert. Das kann im Einzelfall schmerzliche Opfer erfordern. Die größere Verantwortung aber liegt bei einer weitschauenden Agrar- und Regionalpolitik. Sie wird darüber mitzuentscheiden haben, ob einer Landwirtschaft, die bodenbezogen, kreislauforientiert und umweltverträglich arbeitet, der Vorzug gegeben wird oder einer industrielle betriebenen Nahrungsmittelproduktion. Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung sollte in die Richtung einer umweltgerechten Produktion und einer artgerechten Tierhaltung gelenkt werden. Entscheidet man sich aber aus den oben angeführten Gründen für den Vorrang einer bäuerlichen Landwirtschaft, dann wird man um eine entsprechende Markt- und Preispolitik nicht herumkommen. Eine besondere Verantwortung kommt dabei den Konsumenten zu. Das steigende Bewußtsein über die Zusammenhänge zwischen gesunder Umwelt und gesunder Ernährung verlangt solidarische Unterstützung der Erzeuger von Lebensmitteln durch die Konsumenten.
(47) Es müssen aber ebenso die landeskulturellen Leistungen anerkannt und finanziell abgegolten werden. Es ist notwendig, im ländlichen Raum neue Arbeitsplätze zu schaffen, damit eine bäuerliche Landwirtschaft die gesamte ländliche Bevölkerung in der Vielfalt von Voll-, Neben- und Zuerwerbsbetrieben existieren können. Der ländliche Raum kann nur durch moderne Infrastruktur, durch erweiterte Möglichkeiten der Bildung und Weiterbildung, der Kranken- und Altenbetreuung und der Freizeitgestaltung seine Anziehungskraft beibehalten und die Erfahrung von Solidarität vermitteln. Die Eindämmung der Abwanderung vieler Menschen, vor allem der Jugend, wird ein untrügliches Zeichen für eine neue soziale Gerechtigkeit im ländlichen Raum sein.
7. Schöpfung, Natur und Umwelt
(48) Wie nie zuvor sind die Menschen heute in Sorge um die Zukunft der Natur und Umwelt. Durch Jahrtausende wurde der Mensch von den Naturkräften bedroht. Jetzt bedroht der Mensch die Natur in einem Ausmaß, daß ihr kaum heilbare Schäden zugefügt werden und sie ihrerseits in neuer Weise den Menschen bedroht. Wir teilen die Sorgen und Ängste, die viele unserer Brüder und Schwestern bestimmen, und anerkennen ihren Einsatz für die Erhaltung der Schöpfung.
(49) Wenn wir in unserem Sozialhirtenbrief zu den Fragen der Schöpfung, Natur und Umwelt Stellung nehmen, dann tun wir es entsprechend unserem religiösen Auftrag. Der biblische Schöpfungsbericht ist geprägt von der wiederkehrenden Aussage: "Und Gott sah, daß es gut war" (Gen 1-2). Diese gute Schöpfung übergab Gott dem Menschen, daß er sie "bebaue und behüte". Daraus folgt das Recht des Menschen, die Erde so in seinen Dienst zu nehmen, daß sie ihm dazu dient, "mehr Mensch zu werden". Indem der Mensch in der Vielfalt seines persönlichen und gemeinschaftlichen Schaffens mehr Mensch wird, verherrlicht er seinen Schöpfer, dessen Bild und Gleichnis er ist. Bebauen und Behüten kann aber nicht bedeuten, den Garten Gottes zu gefährden und zu verwüsten, sondern stellt die Aufgabe, ihn in der Art der Vorsehung und Fürsorge Gottes zu pflegen und zu vollenden. Indem der Mensch durch das Werk seiner Hände und die Kraft seines Geistes die Geheimnisse der Natur entdeckt und die Welt sinnvoll ordnet, trägt er dazu bei, daß die Schöpfung immer eindrucksvoller die Größe und Nähe des Schöpfers darstellt.
(50) Wenn immer Gott seinem auserwählten Volk Verheißungen, aber auch Mahnungen zukommen ließ, verband er sie mit dem Hinweis auf das Leben der kommenden Generationen. Er wollte nicht, daß sein Volk sich in die Gegenwart verlor, sondern daß es sich der Verantwortung für die Nachkommenschaft bewußt blieb. Wenn wir darum sagen, daß die Güter dieser Erde für alle Menschen bestimmt sind, dann gilt das nach dem Willen Gottes nicht nur für die Menschen von heute, sondern auch für die kommenden Generationen. Wir haben nicht das Recht auf schrankenlosen Gebrauch und Verbrauch, sondern die Pflicht und Verantwortung für die Welt und die Menschen von morgen.
(51) Schon der Schöpfungsbericht spricht darum von der Ursünde des Menschen, die nicht nur zu einer Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selber führte, sondern auch zu einem "Aufruhr der Erde".[34] Der Mensch tritt der Schöpfung nicht mehr in "Liebe und Weisheit",[35] sondern in der Haltung des Egoismus und der Ausbeutung gegenüber.
Als Christen wissen wir, daß durch den Tod und die Auferstehung Christi nicht nur die Menschheit mit Gott versöhnt wurde, sondern daß es dem Vater gefallen hat, durch ihn alles zu versöhnen, "alles im Himmel und auf Erden" (Kol 1,20). Damit wurde auch die Schöpfung erneuert und all das, was einst dem Tod und dem Verfall ausgeliefert war, erhielt ein neues Leben bis hin zur Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Wenn auch die Menschheit trotz des durch Christus geschenkten Heiles bis zu seiner Wiederkunft weiterhin dem Gesetz der Sünde unterworfen bleibt, so enthält sein Evangelium eine Frohbotschaft und eine Wegweisung für den Umgang mit der Schöpfung: es besteht eine innere Beziehung zwischen dem Frieden mit Gott und dem Umgang mit der Schöpfung.
(52) Aus dieser religiösen Botschaft ergibt sich für den Christen ein ethisches Leitbild für den Umgang mit der Schöpfung. Zu allererst gilt es zu lernen, daß die Schöpfung und alles, was lebt, einen gottgewollten Eigenwert besitzt und nicht allein zum Nutzen des Menschen da ist. Der Ideologie eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums durch willkürliche Ausbeutung der Natur ist die Ehrfurcht vor der und die Verantwortung für die Schöpfung entgegenzusetzen. Wo es zu Spannungen zwischen ökonomischen Wachstumsinteressen und ökologischen Erhaltungsinteressen kommt, muß dafür gesorgt werden, daß eine menschenwürdige Umwelt gesichert bleibt. Darum ist jeder wissenschaftlich-technische Fortschritt darauf zu überprüfen, ob er umweltverträglich ist und nicht zu Folgen führt, die eine schwere Gefährdung für den Menschen darstellen.
(53) Aus diesem religiös-ethischen Leitbild ergeben sich Verpflichtungen für das konkrete Handeln: Die Verantwortung für Schöpfung, Natur und Umwelt gehört zu den ganz persönlichen Pflichten des Einzelmenschen und seiner unmittelbaren Lebensgemeinschaft. Im persönlichen Lebensstil, im selbstkritischen Gebrauch der technischen Mittel, in der sparsamen Verwendung von Rohstoffen und Energie, im sorgfältigen Umgang mit Schadstoffen, in der Vermeidung von Abfällen, welche die Umwelt belasten, entscheidet sich bereits ein wesentlicher Teil der Verantwortung für Natur und Umwelt. Ohne eine kritische Selbstprüfung und Umkehr auf der persönlichen Ebene lässt sich die ökologische Frage nicht menschengerecht lösen. Es braucht eine "Bekehrung in der Art des Denkens und des Verhaltens".[36]
(54) Auch in der ökologischen Frage darf nicht alles vom Staat erwartet werden. Es gilt auch hier das Subsidiaritätsprinzip, das Grundgesetz der gestuften Selbsthilfe. Pfarrgemeinden, Ortsgemeinden, Sozialverbände und andere Vereinigungen haben Verantwortung wahrzunehmen. Wenn es darum geht, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu verteidigen, dann muß auch manchmal ein klares Nein zu bestimmten Vorhaben gesagt werden. Eine besondere Aufgabe haben hier die Verantwortlichen der Wirtschaft. Wir alle werden uns noch kritischer fragen müssen, ob wir den Raubbau an gewissen Ressourcen noch hinnehmen dürfen, oder ob wir nicht bereits zu einem radikalen Umdenken gezwungen sind.
(55) Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Bedrohung von Schöpfung, Natur und Umwelt bereits ein solches Ausmaß angenommen hat, daß ein direktes Eingreifen des Staates notwendig geworden ist. Die Erhaltung und Wiederherstellung einer menschenfreundlichen Natur und Umwelt werden Opfer und Verzicht auch wirtschaftlicher und finanzieller Art verlangen. Sie müssen in solidarischer Haltung eingefordert und geleistet werden. Dazu ist der Staat im Namen des Gemeinwohles berechtigt und verpflichtet.
(56) Die Bedrohung von Schöpfung, Natur und Umwelt läßt sich heute nicht mehr bloß innerstaatlich bewältigen. Die Ursachen sind überstaatlich und weltweit geworden und darum müssen auch weltweite Lösungen angestrebt werden. Die Kirche begrüßt und unterstützt dieses Bemühen. Sie weist dabei aber auch auf eine andere Aufgabe hin, die ebenso vordringlich ist: Die Bedrohung der Natur und Umwelt auf weltweiter Ebene hängt mit dem Elend der Entwicklungsländer zusammen. Die Ausbeutung des Bodens, das Abholzen der Wälder, das unkontrollierbare Wachstum der Städte, können nur durch eine schrittweise, aber sehr bewußte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Völker eingedämmt werden. Solange diese "Strukturen der Armut"[37] weiterbestehen und sogar noch anwachsen, wird auch die Bedrohung der Natur und Umwelt weiterbestehen und zunehmen.
(57) Wir sind uns bewußt, daß diese Umkehr und Bekehrung auf verschiedenen Ebenen eine umfassende Bewußtseins- und Gewissenbildung erfordert. Ohne eine breite Zustimmung von seiten der Bevölkerung lassen sich die dringend erforderlichen Maßnahmen weder auf innerstaatlicher, noch auf weltweiter Ebene durchführen. Wir wollen mit aller Entschiedenheit an diesem Bewußtseinswandel mitarbeiten. Für die Kirche geht es dabei keineswegs um eine bloß profane Angelegenheit, sondern um einen Auftrag, der mit dem Willen Gottes zu tun hat.