Sozialhirtenbrief der katholischen Bischöfe Österreichs - Teil 2
Fortsetzung des Wortlauts des gemeinsamen Sozialhirtenbriefes vom 15. Mai 1990
III. GESELLSCHAFT IN SOLIDARITÄT UND VERANTWORTUNG
(58) In Arbeit und Wirtschaft entscheidet sich Wesentliches für die soziale Kultur unseres Landes. Gelingt es, in Arbeit und Wirtschaft "mehr Mensch zu werden", so wirkt sich diese Erfahrung befreiend und befruchtend auf die übrigen Bereiche des gesellschaftlichen Leben aus: auf Ehe und Familie, auf das Leben in Nachbarschaft und Gemeinde, auf die Gestaltung der Freizeit, auf die Einstellung zum Staat. Erfährt der Mensch Arbeit und Wirtschaft als Bedrückung und Entfremdung, dann bestimmt diese negative Erfahrung nur allzuoft auch sein Verhalten im Alltagsleben.
1. Glaube, Gemeinschaft und Gesellschaft
(59) Leben in Gesellschaft ist für die Christen nicht zuerst ein Problem der Organisation und der Rechtsordnung, wie wichtig diese auch sein mögen. Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft hat für sie wesentlich mit dem Willen des Schöpfers und dem Auftrag Christi zu tun. Von dort bezieht die Kirche letztlich die Berechtigung, aber auch die Verpflichtung zu ihren Aussagen über das gesellschaftliche Leben.
Das Wort des Schöpfers "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt" (Gen 2,18), hat eine umfassende Bedeutung. Es bezieht sich ursprünglich auf die Kernzelle jeder Gesellschaft, auf Ehe und Familie: "Als Mann und Frau schuf er sie" (Gen 1,27). Dann aber hat dieses Wort auch eine grundsätzliche Bedeutung für jedes zwischenmenschliche Leben.
(60) Geschaffen nach dem Bild des dreifaltigen Gottes kann der Mensch den in ihm grundgelegten Reichtum nur in Begegnung und Austausch mit der Vielheit und Verschiedenheit der Mitmenschen verwirklichen: in Liebe und Freundschaft, in Wohngemeinschaft und Nachbarschaft, in der gemeinsamen Arbeit, in den Werken der Kultur, in der religiösen Gemeinde, im Leben des Staates. Der Mensch sucht das "Du" und braucht das "Du", um jenes "Ich" zu werden, das Gott ihm zugedacht hat.
Deshalb gilt: "Es ist nicht gut für den Menschen, daß er allein bleibt", oder wie das II. Vatikanische Konzil formuliert: "Da das gesellschaftliche Leben für den Menschen nicht etwas äußerlich Hinzukommendes ist, wächst der Mensch nach all seinen Anlagen und kann seiner Berufung entsprechen durch Begegnung mit anderen, durch gegenseitige Dienstbarkeit und durch den Dialog mit den Brüdern."[38] Entfaltung der Person und Entfaltung der Gesellschaft bedingen sich gegenseitig.
(61) Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft dient nach dem Plan Gottes nicht nur der Entfaltung und Vollendung des Menschen, sondern wesentlich auch der Darstellung und Verkündigung dessen, der der Geber alles Guten ist. Wo immer im Zusammenleben und Zusammenwirken von Menschen Liebe, Freude Kraft, Trost und Hoffnung geschenkt und empfangen werden, ereignet sich in Teilhabe Offenbarung der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes. Wir wissen aus der Alltagserfahrung, wie leicht Menschen durch die Erfahrung von Kälte und Grausamkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, von Unrecht und Lüge im gesellschaftlichen Leben an Gott irre werden, wie oft sie aber auch durch ein geglücktes Leben in Gemeinschaft die Größe und Güte Gottes erfahren. Durch das Leben in Gemeinschaft wird nicht nur der ganze Reichtum des Geschöpfes Mensch entfaltet, in ihm spiegelt sich auch die Vollkommenheit des liebenden Gottes, die sich im isolierten Einzelmenschen nicht darstellen kann.[39]
(62) Für Christen erhält das Leben in Gemeinschaft eine neue Begründung und Zielsetzung durch Christus, der in allem uns gleich geworden ist, außer der Sünde (Eucharistisches Hochgebet IV). Er ist Mensch geworden im Kreis der Familie und aufgewachsen in der dörflichen Gemeinschaft. Er sammelte einen Freundeskreis von Jüngern und Frauen um sich und gab ihnen ein neues Gebot: "Liebet einander, so wie ich Euch geliebt habe" (Joh 15,12). Nach seinem Evangelium gründet das Leben in Gemeinschaft in den brüderlichen und schwesterlichen Beziehungen der Menschen zueinander.
(63) Daß Egoismus als Mangel an Solidarität die große Bedrohung des Lebens in Gemeinschaft darstellt, erfuhr Christus selber. Er hat diese Erfahrung auf ihre letzte Wurzel zurückgeführt: auf die Sünde und in ihr auf die Angst des unerlösten Menschen um sich selbst. Darum schafft sein Sterben am Kreuz auch die grundsätzliche Überwindung alles dessen, was Leben in Gemeinschaft gefährdet und zerstört. Und darum bringen seine Auferstehung und das Geschenk seines Pfingstgeistes eine neue Hoffnung und neue Kraft für ein gottgesegnetes Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft. Trotz allem Weiterbestehen von Egoismen, Aggressionen und unmenschlichen Strukturen ist dem Leben in Gemeinschaft die verwandelnde Kraft der Erlösung geschenkt. Das gibt den Christen die zuversichtliche Kraft, sich für eine menschengerechte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einzusetzen.
(64) Damit ist eine weitere Zusage des Evangeliums verbunden: Christus hat sein geoffenbartes Wort und das von ihm gestiftete Heil der Gemeinschaft der Kirche anvertraut. Er ist als Haupt seiner Kirche und durch die Kirche als lebendige Gemeinschaft gegenwärtig. So bestätigt er endgültig, wie bedeutsam und heilbringend nach Gottes Plan Leben in seiner Gemeinschaft ist.
2. Ehe und Familie
(65) Eine Tatsache hat uns im Vorbereitungsprozeß dieses Hirtenbriefes besonders beeindruckt: Das Thema Ehe und Familie wurde am häufigsten angesprochen. Dabei ging es nicht bloß um wirtschaftliche Probleme der Familie. Immer wieder wurde betont, daß die Problematik der heutigen Ehe und Familie viel umfassender und grundsätzlicher Natur ist.
Wir können in diesem Sozialhirtenbrief nicht alle Probleme der Ehe und Familie behandeln. Wir müssen auf eine Reihe anderer kirchlicher Dokumente verweisen[40] und beschränken uns hier auf jene Fragen, die aus Anlaß dieses Hirtenbriefes an uns herangetragen wurden und die wir selber im Blick auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens als vorrangig ansehen.
(66) Es ist erwiesen, daß Ehe und Familie in der Überzeugung und im Leben unseres Volkes nach wie vor eine vorrangige Bedeutung haben. Das gilt keineswegs nur für die ältere Generation, sondern auch für die Jugend. Das schließt durchaus ein, daß in der Bewertung und noch mehr In der praktischen Gestaltung von Ehe und Familie bedeutende Veränderungen angestrebt werden: Genannt seien das Bemühen um mehr Selbstbestimmung der Ehepartner, um verantwortete Elternschaft, um die Gleichberechtigung von Mann und Frau und um die Verwirklichung der ehelichen Gemeinschaft, auch in Form einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit.
Alle diese Gesichtspunkte lassen aber nicht übersehen, daß wir dennoch von einer Krise der Ehe und Familie sprechen müssen. Sie hat viele Ursachen geistig-religiöser ' wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Art. Unter diesen sind solche, welche die Kirche in besonderer Weise betreffen und herausfordern. Hier geht es uns vor allem um die Krise des gesellschaftlichen Standortes von Ehe und Familie.
(67) Wir müssen feststellen, daß Familien mit mehreren Kindern immer noch erhebliche wirtschaftliche Benachteiligungen erfahren. Wir erleben die Schwierigkeiten vieler Familien, insbesondere der Frauen, die Familienarbeit mit der außerhäuslichen Berufsarbeit in Einklang zu bringen. Wir hören Klagen über den Mangel an familienergänzenden Hilfen bei der Betreuung und Erziehung von Kleinkindern, bei der Pflege von alten und kranken Menschen und nicht zuletzt bei der häuslichen Begleitung von Sterbenden. Wir verweisen auf die immer noch mangelhafte Berücksichtigung der Erziehungszeiten in der gesetzlichen Altersversorgung. Wir sind in Sorge über die Wohnungsnot kinderreicher Familien, aber auch jener junger Menschen, die am Beginn ihrer Ehe stehen.
Wir sehen, daß in Österreich die Familie als Kernzelle einer gesunden Gesellschaft zurückgedrängt wird. Das geschieht, obwohl in der Bevölkerung der Wunsch nach einem geordneten Familienleben außerordentlich hoch ist. Zugleich leiden aber immer mehr Menschen darunter, daß dieser ihr Wunsch aus persönlichen und gesellschaftlichen Gründen immer schwerer lebbar ist. Dazu tragen auch kulturelle Tendenzen bei, die sich mehr am Leitbild individueller Selbstverwirklichung und persönlichen Wohlergehens orientieren als an der Stärkung der gesellschaftlichen Kernzelle Familie. Das mag zwar kurzfristig zu einem breiten Konsens und zu äußerem politischen Erfolg führen, auf weite Sicht gesehen hat aber die Gesellschaft selber an den schwerwiegenden schädlichen Folgen zutragen. Die Kirche kann auch nicht hinnehmen, daß Ehe und Familie durch die Begünstigung konkurrierender Lebensformen in Bedrängnis geraten. Es schadet am Ende sowohl den Erwachsenen wie den heranwachsenden Kindern, wenn es immer weniger Lebensräume gibt, die von Stabilität durch Treue und Liebe geprägt sind.
(69) Wir sind der Überzeugung, daß Ehe und Familie nicht nur einem erst vom Christentum geschaffenen Leitbild entsprechen, sondern eine Einrichtung sind, die in ihrem innersten Kern der Schöpfungsordnung entspringt und darum für das gesellschaftliche Leben der Menschen allgemein verpflichtend ist. In der ehelichen Liebe erfahren Menschen am tiefsten den Reichtum des Lebens in Gemeinschaft. In der Familie werden den Kindern zuerst die Grundwerte des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens vermittelt. Durch das Wort Gottes und die Botschaft Christi erhält dieses Leitbild einen neuen religiösen Inhalt und eine neue Verpflichtung. Die christliche Ehe bezeichnet "das Geheimnis der Einheit und der fruchtbaren Liebe zwischen Christus und der Kirche".[41]
(70) Ausdrücklich erklärt das II. Vatikanische Konzil: "Das Wohl der Person sowie der menschlichen und christlichen Gesellschaft ist zuinnerst mit einem Wohlergehen der Ehe und Familiengemeinschaft verbunden."[42] Die Entfaltung und Verwirklichung des Menschen wird also primär in der gebenden und empfangenden Begegnung innerhalb der Familie grundgelegt. Die menschliche Gesellschaft als solche empfängt durch die gesellschaftsstiftende Kraft der Ehe und Familie in ihrer Grundlegung, in ihrem Zusammenhalt und in ihrer menschengerechten Gestaltung einen Beitrag, der aus anderen Kräften nicht bezogen werden kann.
Wenn wir die gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie mit solcher Deutlichkeit betonen, dann sind wir uns der vielfältigen Krise der heutigen Gestalt von Ehe und Familie durchaus bewußt. Wir wollen damit auch kein voreiliges Urteil über die persönliche Notlage einzelner Menschen aussprechen. Wir anerkennen das Bemühen der öffentlichen Hand und anderer gesellschaftlicher Kräfte, die sich gerade in letzter Zeit für das Wohl von Ehe und Familie eingesetzt haben. Trotzdem fühlen wir uns zu dieser besorgten Aussage verpflichtet.
(71) Daraus ergeben sich drei Folgerungen, die wir kurz so zusammenfassen möchten:
Erstens: Die Familie braucht mehr denn je einen gesicherten wirtschaftlichen Lebensraum. Die Familie erweist durch die Erziehung der Kinder der Gesellschaft von morgen einen unersetzlichen Dienst. Die Gesellschaft ist darum verpflichtet, alles zu tun, um nicht die Familie, insbesondere die kinderreiche und die Familie Alleinerziehender, wirtschaftlich zu diskriminieren.
Wenn sich Eltern dafür entscheiden, daß ein Teil entweder ganz oder zeitweise nicht berufstätig ist, um sich ganz der Familie, der Erziehung der Kinder, der Pflege von alten und kranken Menschen und der häuslichen Begleitung von Sterbenden zu widmen, dann muß in der Familienpolitik dafür Sorge getragen werden, daß die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Nachteile ausgeglichen werden. Das kann konkret in Form einer familienfreundlichen Steuerpolitik, von Kindergeld, Erziehungsgeld, Anerkennung der Erziehungszeiten in der Sozialversicherung und für den Pensionsanspruch geschehen. Auf keinen Fall dürfen materielle Zuwendungen an die Familie als bloßes Entgegenkommen oder Gunsterweis angesehen werden. Sie sind ein Rechtsanspruch der Familie an die Solidarität der Gesellschaft, für deren Zukunftssicherung sie die unersetzliche Voraussetzung schafft.
(72) Zweitens: Die Familie braucht aber auch ihren sozialen Lebensraum. Gewiß bestehen in Arbeit und Wirtschaft Notwendigkeiten, die berücksichtigt werden müssen. Aufgrund des technisch-wissenschaftlichen Wandels eröffnen sich aber neue Möglichkeiten, Arbeitsformen und Arbeitszeiten mehr den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Wir möchten in aller Dringlichkeit die Forderung stellen, Arbeitsformen und Arbeitszeiten so zu gestalten, daß der soziale Lebensraum der Familie wiederhergestellt und erweitert wird, daß sich Eltern und Kinder wieder regelmäßiger begegnen können, daß der Familie wieder längere Zeiten des gemeinsamen Lebens und Erlebens zur Verfügung stehen. Hier eröffnet sich ein weites Feld der Verantwortung der Wirtschaft für gesamtgesellschaftliche Anliegen.
Die Sicherung und Erweiterung des sozialen Lebensraumes der Familie erschöpfen sich aber nicht in wirtschaftlichen Reformen. Es braucht dazu auch gesellschaftliche Initiativen. Je mehr der moderne Wirtschafts- und Arbeitsprozeß den sozialen Lebensraum der Familie einengt, um so mehr braucht er ergänzende zwischenmenschliche Einbindungen. Das kann in vielen Formen der Freundschaft der Familien untereinander, aber auch durch familienfreundliche Angebote von seiten der Nachbarschaft, der Pfarren, Ortsgemeinden und freiwilliger Gruppen geschehen.
(73) Drittens: Die Familie braucht schließlich auch einen kulturellen Lebensraum. Ehe und Familie geraten nicht nur in wirtschaftliche Engpässe und in eine Verarmung ihres sozialen Lebensraumes. Auch der geistig-kulturelle Lebensraum der Ehe und Familie wird enger, ihr sittlicher Wert ausgehöhlt, relativiert und aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verdrängt. Die Sexualität, insofern sie zwischenmenschliche Liebe zum Ausdruck und zum Wachsen bringt, wird weithin von ihrer Hinordnung auf die Ehe getrennt. Aus kommerziellen Interessen wird sie zum allgemeinen Konsumgut herabgewürdigt, in der Werbung mißbraucht und in der menschenentwürdigenden Pornographie entstellt.
Die geistigen Werte einer Gesellschaft können nicht obrigkeitlich verordnet werden. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nicht auch das geistig-sittliche Gemeinwohl der ergänzenden Hilfe und des wirksamen Schutzes des Staates bedarf. Das gilt in besonderer Weise für den Schutz der Familie. Die Bischofssynode von 1980 betonte ausdrücklich, daß die Familien und die gesellschaftlichen Kräfte selbst die unmittelbare Verantwortung für die Erhaltung und Verteidigung des Grundwertes Familie haben. Sie sagte aber ebenso eindeutig: "In der Überzeugung, daß das Wohl der Familie einen unersetzlichen und unverzichtbaren Wert für das Zusammenleben der Bürger darstellt, müssen die staatlichen Autoritäten ihr Möglichstes tun, um den Familien alle jene Hilfen auf wirtschaftlichem, sozialem, erzieherischem, politischem und kulturellem Gebiet zu sichern, die sie brauchen, um in menschenwürdiger Weise ihrer vollen Verantwortung nachkommen zu können."[43]
(74) Wir wollen uns dieser Verantwortung für die Familien selber verpflichten: Wir werden in Zukunft der Ehe und Familie in ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Not weiterhin die volle Aufmerksamkeit zu widmen haben. Die Kirche wird auch in ihrem eigenen Bereich die Voraussetzungen verbessern müssen, so daß es für ihre Mitglieder möglich ist, Ehe und Familie überzeugend zu leben.
3. Frauen
(75) Schon 1963 zählte Johannes XXIII. in seinem Rundschreiben über den Frieden folgende drei Zeichen der Zeit auf, die die Welt von heute charakterisieren: der eindrucksvolle Aufstieg der werktätigen Menschen, das Ringen der Entwicklungsländer um wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt, das neue Bewußtsein um die Würde der Frau und ihre gesellschaftliche Stellung.[44]
Wenn das II. Vatikanische Konzil die Kirche dazu verpflichtet, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu interpretieren, dann muß sie heute ein deutliches Wort zu dieser neuen Stellung der Frau sagen. Sie hat das in theologisch-religiöser Sicht in einer Reihe von neueren Dokumenten getan.[45] In diesen Dokumenten ist die Grundposition der Kirche hinsichtlich der fundamentalen Gleichheit der Geschlechter in ihrer Würde so eindeutig ausgesprochen, daß sie nicht wiederholt werden muß. Uns geht es hier um einige konkrete Auswirkungen für unser Land.
(76) Wir Wissen um die große Mehrheit der Frauen in Österreich, die - sei es in Ehe und Familie, sei es als Unverheiratete - trotz aller Belastungen in einer eindrucksvollen christlichen Haltung mutig ihr eigenes Leben gestalten und in Familie und im öffentlichen Leben einen unersetzlichen Beitrag zum Bestand und Wohlergehen unseres Volkes leisten.
(77) Im Wissen um diese positiven Werte müssen wir dennoch auch einer ernsten Sorge Ausdruck geben. Im kirchlichen Dokument über die Berufung und Sendung der Laien wird gefordert, daß "auf die vielen Diskriminierungen, denen die Frau zum Opfer fällt", eine "umfassendere und entschiedenere Antwort" gegeben werden müsse.[46] Diskriminierungen, die die Frau deshalb erfährt, "weil sie Frau ist", treten in verschiedener Weise in Erscheinung: wenn die Frau am Arbeitsplatz benachteiligt wird; wenn sie für die gleichwertig geleistete Arbeit einen niedrigeren Lohn erhält als der Mann; wenn ihre Erziehungsarbeit in der Familie in der Sozialgesetzgebung nicht die entsprechende Anerkennung findet; wenn sie nach den Jahren der Mutterschaft wieder in die Berufsarbeit zurückkehren will und keine Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten mehr vorfindet; wenn man sie als ein Werkzeug des egoistischen Interesses und der Lust versteht, das man kaufen oder verkaufen kann.
Solche Formen der Diskriminierung belasten in besonderer Weise alleinerziehende Frauen. Viele Probleme der Familie treffen sie in verschärfter Weise. Die Verantwortung für die Erziehung und den Unterhalt der Kinder bedeutet für sie eine doppelte Belastung. Oft sind sie zur Ganztagsarbeit gezwungen, finden aber nicht die notwendigen familienergänzenden Hilfen wie Kindergärten, Heime und Horte vor. Dazu kommen häufig gesellschaftliche Vereinsamung und zwischenmenschliche Isolation.
(78) Unsere grundsätzliche Stellungnahme zum gesellschaftlichen Standort der Frau geht in eine zweifache Richtung:
Die erste bezieht sich auf die gesellschaftlichen Einrichtungen und Strukturen. Grundsätzlich darf die Gesellschaft eine Mutter mit Kindern nicht dazu zwingen, aus wirtschaftlicher Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit zu übernehmen. Das Sozialrundschreiben über die menschliche Arbeit bezeichnet das im Blick auf das Gemeinwohl der Familie und der Gesellschaft als "widersinnig".[47] Dabei ist sich die Kirche bewußt, daß Frauen keineswegs nur aus materiellen Überlegungen außerhäusliche Arbeiten annehmen. Oft wird dies für Frauen nur dann ohne Überlastung und schlechtes Gewissen möglich sein, wenn die Männer ihrerseits sich mehr als bisher ihrer familiären Aufgaben annehmen. Dies wird den Männern nicht gelingen ohne entsprechende Veränderungen in Arbeit und Wirtschaft.
Es geht in der heutigen Auseinandersetzung in Wirtschaft und Gesellschaft darum, der Frau in weithin von Männern dominierten Einrichtungen und Strukturen die Gleichberechtigung zu verschaffen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Einrichtungen wären so zu beeinflussen und zu verändern, daß sie eine flexiblere Aufgabenteilung von Mann und Frau in Familie, Arbeit und Freizeit ermöglichen. Daß es sich hier keineswegs um utopische Forderungen handelt, zeigen die heutigen Bemühungen um flexible Arbeitszeiten und Teilarbeitszeiten, um einen wahlweisen Karenzurlaub, um Unternehmensplanungen, die bewußt den Wiedereinstieg der Frau in die Berufsarbeit verbunden mit neuen Aufstiegschancen berücksichtigen.
(79) Die zweite Forderung des Rundschreibens über die menschliche Arbeit lautet: Wenn Frauen berufstätig sind, gleich ob verheiratet oder alleinstehend, dann sollen sie dies tun können "ohne Diskriminierungen und ohne Ausschluß von Stellungen, für die sie befähigt sind".[48] Diese Forderung betrifft vor allem eine Änderung des Bewußtseins in der Gesellschaft.
Es ist äußerst mühsam, geschichtlich bedingte Vorurteile, die sich in gesellschaftlichen Strukturen verfestigt haben, abzubauen und "durch die wahre Ehrfurcht vor den Menschenrechten der Frau" zu ersetzen.[49] Dieser Bewußtseinswandel läßt sich nicht verordnen, er muß in der Hausgemeinschaft beginnen und von den gesellschaftlichen Kräften mitgefördert werden. Die Frauen selber haben in diesem Bemühen eine große Aufgabe, insbesondere die christlichen Frauen und ihre Organisationen. Weil aber diese Veränderungen, die die Frauen wünschen, nicht ohne die Mitarbeit der Männer vorankommen, sind auch die Männer und ihre Organisationen sowohl aus eigenem Interesse wie aus Solidarität mit den Frauen gehalten, gestaltend mitzuwirken.
(80) Die Kirche ist zu diesem Bewußtseinswandel in besonderer Weise verpflichtet. Würde und Rechte der Frau haben nicht nur in der Geschichte der Menschheit, sondern auch in der Geschichte der Kirche nicht immer die gebührende Anerkennung gefunden. Wenn aber heute die Kirche die volle Anerkennung der Würde und Rechte der Frau als Zeichen der Zeit erkennt, dann muß das für die Kirche zum unüberhörbaren Imperativ werden.
4. Jugend
(81) Wir haben in unserem Sozialhirtenbrief besonders auch die jungen Menschen im Blick, beschränken uns dabei aber auf jene Fragen, die unmittelbar mit ihrer Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft zu tun haben. Beim österreichischen Katholikentag 1983 formulierte Johannes Paul II. die Anliegen der Jugend so: "Ihr wollt eine Gesellschaft mit mehr Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Ihr wollt eine Gesellschaft mit mehr Verantwortungsbewußtsein gegenüber Mensch und Umwelt, mit mehr Toleranz und vor allem mit mehr Frieden" (10.9.1983). Nicht nur auf die gängigen Klagen und Anklagen über die Jugend hat sich der Papst eingelassen, sondern auf ihre positiven Ziele und Aufgaben. Dies wollen auch wir versuchen.
Die tiefgreifenden Veränderungen in Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft stellen vor allem für junge Menschen eine große Herausforderung dar. Man ruft nach Nachwuchskräften, die über eine hohe Berufsqualifikation, eine breit angelegte, fachübergreifende Ausbildung, über Anpassungsfähigkeit und Kreativität verfügen. Auch bei hoher Motivation, ehrlichem Interesse und großer Einsatzbereitschaft kann dies zur Überforderung werden.
(82) Wenn wir heute von der Notwendigkeit einer neuen Solidarität sprechen, dann muß sich diese gerade in der Sorge um die Jugend bewähren: nicht in allgemeinen Deklarationen, sondern in konkreten Maßnahmen. Jeder Jugendliche hat das Recht auf eine qualifizierte Erstausbildung, die seiner Begabung und seiner Neigung entspricht und gleichzeitig realistische Arbeitschancen eröffnet. Dazu braucht es eine umfassende Beratung und eine enge Zusammenarbeit zwischen den Jugendlichen selber, den Eltern, den Schulen und den öffentlichen Einrichtungen. Sie darf sich nicht auf eine flüchtige Beratung am Ende der Schulzeit beschränken, sondern muß die jungen Menschen in einer mehrstufigen Berufsorientierung begleiten. Den Eltern, aber auch den Jugendlichen selber muß in aller Deutlichkeit klargemacht werden, daß die Chancen auf dem Arbeitsmarkt wesentlich von der qualifizierten Ausbildung und einer realistischen Berufsentscheidung abhängen.
Es darf nicht aufgrund des Versagens der Gesellschaft und des Staates zu einer Klassentrennung zwischen Gutausgebildeten und jugendlichen Randschichten kommen, die einer erhöhten Gefahr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind. Die Solidarität mit der jungen Generation verlangt, daß gerade den Schwächeren im Wettbewerb durch gezielte Hilfsmaßnahmen Chancengerechtigkeit verschafft wird. Das gilt in besonderer Weise für jugendliche Behinderte.
(83) In unseren Begegnungen mit jungen Menschen erfahren wir immer wieder: Sie kommen aus einer Umwelt, die ihnen durch Familie, Schule und Medien nur Fragmente von Lebensorientierung vermittelt hat. Sehr früh wurden sie in die Konflikte der Erwachsenen hineingezogen. Es wurden Fragen aufgeworfen, aber keine Antworten gegeben. Sie wuchsen auf in einer Gesellschaft mit rivalisierenden Gruppeninteressen und sich wiederholenden Skandalen, die lähmende Hilflosigkeit hervorrufen. Nicht wenige Jugendliche beschreiten einen naheliegenden Weg: Sie richten sich aus der Fülle der aufgedrängten Angebote ihren Lebensplan selber zurecht. Attraktives wird angenommen, Hindernisse werden umgangen. Bindungen werden vermieden, um jederzeit aussteigen zu können. Aber auch diese unsere Erfahrung beschreibt oft nur die äußere Erscheinung. Sie ist ein Ausdruck eines viel tieferen Konfliktes bei ihrer Selbstfindung inmitten einer Gesellschaft mit wenig glaubwürdigen Orientierungshilfen.
(84) Wir begegnen auch vielen jungen Menschen mit einer sehr kritischen und selbstkritischen Grundhaltung, mit einer ausgesprochenen Bereitschaft zum sozialen Engagement und mit einem Durchhaltevermögen, das beeindruckt. Sie leiden an der Zerrissenheit unserer Gesellschaft, am Widerspruch zwischen äußeren Fassaden und innerer Leere, an der Erstarrung der Institutionen. Trotzdem lassen sie sich nicht entmutigen und glauben an ihre Zukunft. Dies gibt auch uns viel Zuversicht.
(85) Niemand kann der Jugend ihre eigene Verantwortung für die Zukunft abnehmen oder ihr etwas aufzwingen, was sie nicht innerlich bejaht. Unsere Gesellshaft kann und muß aber Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich die Jugend angesprochen und herausgefordert erfährt. Unsere Jugend soll erfahren, daß sie gerade dort, wo über ihre eigenen Anliegen entschieden wird, gebraucht und zur Mitverantwortung gerufen wird; daß sie im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Werte und Ziele erkennen kann, die gelebte Wirklichkeit sind; dass es sich lohnt, sich im öffentlichen Leben einzusetzen, weil Reformen nicht bloß zu Propagandazwecken versprochen werden, sondern überprüfbare Wirklichkeit geworden sind; daß junge Menschen erfahren, daß unsere Gesellschaft nicht nur das eine Ziel kennt: Steigerung des materiellen Wohlstandes, sondern daß es auch Wahrheiten, Werte und Ziele gibt, die über den engen Egoismus hinausführen: Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Verantwortung für die Schöpfung.
(86) Die Solidarität mit den Anliegen der Jugend muß in den gesellschaftlichen Gebilden und Strukturen konkrete Gestalt annehmen. Deshalb haben wir sosehr die Bedeutung von Ehe und Familie betont, darum haben wir die Ausbildung und die Vermittlung von Berufschancen für die Jugend hervorgehoben. Darum erscheint es uns so wichtig, daß die öffentliche Meinung nicht einseitig von Korruption und Skandalen bestimmt wird, sondern von glaubwürdigen Versuchen zur Vermenschlichung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Bereitschaft junger Menschen zur gesellschaftlichen Verantwortung ist ein zu kostbares Gut, als daß sie aufs Spiel gesetzt werden darf.
(87) In der Sorge um die Jugend besinnen wir uns auch auf unsere eigene Verantwortung. Wir erfahren in den Kontakten mit vielen jungen Menschen, daß sie es auch schwer haben - so sagen sie - in der Begegnung mit der Kirche, daß sie in ihr Strukturen begegnen, die sie ablehnen, Haltungen, die sie abstoßen. Es ist unmöglich, in diesem Rahmen eine ausreichende Antwort zu geben. Kritische Anfragen nehmen wir aber sehr ernst.
Wenn wir von Wirtschaft und Gesellschaft heute eine neue Solidarität mit der Jugend verlangen, dann muß das auch für die Kirche gelten. Wir wollen die Jugend in ihrer Suche nach einem sinnvollen Leben nicht allein lassen. Wir teilen ihre Enttäuschung über die Widersprüche unserer Gesellschaft. Wir bestärken sie in ihrer Bereitschaft zum Einsatz für eine menschenwürdigere Zukunft. Wir wollen sie in der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit sich selber begleiten. Wir sind überzeugt, daß die Begegnung mit der Person und dem Wort Christi für viele eine neue Lebensentscheidung bedeuten wird. Aus dieser Begegnung werden sie nicht nur Werte, sittliche Orientierung und Zuversicht für die Gestaltung des eigenen Lebens und die Vermenschlichung der Gesellschaft erhalten. Sie werden auch bereit zu einer neuen Verantwortung in der Kirche, die in allem geschichtlichen Wandel auch heute und morgen die Kirche Jesu Christi ist. Wir wollen den jungen Menschen unseren Dienst dazu anbieten, daß sie ihm begegnen, der für sie "der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6) sein will.
5. Die neue soziale Frage
(88) Als Papst Leo XIII. vor 100 Jahren das erste Sozialrundschreiben über die Arbeiterfrage veröffentlichte, war die soziale Frage noch eindeutig bestimmbar durch das Gegenüber einer kleinen Gruppe von Besitzern großen Kapitals und einer Masse ausgebeuteter Proletarier. Als Pius XI. vierzig Jahre später das Sozialrundschreiben Quadragesimo anno schrieb, war die soziale Frage immer noch durch zwei Fronten gekennzeichnet. Als das II. Vatikanische Konzil im Dokument "Kirche in der Welt von heute" die Eigenart der sozialen Frage neu zu bestimmen suchte, ging die Antwort in eine zweifache Richtung: Die neue soziale Frage hat eine innerstaatliche Dimension, die sich vor allem auf die Industrieländer bezieht, aber ebenso eine weltweite Dimension, die sich auf die Entwicklungsländer erstreckt.
(89) Die neue innerstaatliche soziale Frage unterscheidet sich deutlich von der sozialen Frage der Vergangenheit. Damals standen sich Kapital und Arbeit klar abgegrenzt im Klassenkampf gegenüber. Die neue soziale Frage kennt diese erstarrten Fronten nicht mehr. Wir haben es vielmehr mit einem gesellschaftlichen Wandel zutun, der die erstarrten Fronten aufgelöst und zu einem neuen Netz der sozialen Beziehungen und Abhängigkeiten geführt hat. Dieses Netz verbindet eine Vielzahl von aufsteigenden und absteigenden Gruppen quer durch die Gesamtgesellschaft. Es gibt bevorzugte und benachteiligte Bevölkerungsschichten. Es gibt Gruppen, die im Verhältnis zum Ganzen überstark belastet sind, und andere, die sich einer privilegierten Stellung erfreuen. Es gibt Menschen, die neue Aufstiegschancen vorfinden, und es gibt solche, die absteigen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und in Armut leben. Dazu gehören oft: Alleinverdiener mit Familie, Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen und in Leichtlohngruppen, Mindestrentner, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Bewohner wirtschaftlich schwacher Regionen, Behinderte, Obdachlose, alte und kranke Menschen, Gastarbeiter und Flüchtlinge.
(90) War die alte soziale Frage durch ein hohes Maß an Klassensolidarität gekennzeichnet, so wird die neue soziale Frage wesentlich stärker vom persönlichen und vom Gruppeninteresse bestimmt. Man sucht sich, einzeln oder in Gruppen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile zu verschaffen, auch auf Kosten anderer Gruppen, die nicht über die gleiche organisatorische Macht verfügen. Diese Rivalität der Gruppeninteressen führt keineswegs von selber zu einer größeren sozialen Gerechtigkeit. Sie erzeugt vielmehr neue Ungleichheiten und Diskriminierungen und damit eine neue soziale Frage.
(91) Zu dieser neuen sozialen Frage gehört heute in besonderer Weise das Problem der Flüchtlinge und Einwanderer. Wir wissen, daß sowohl einzelne wie auch Gemeinden ein hervorragendes Zeugnis der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft abgelegt haben. Wir wissen aber auch um bedauerliche Ereignisse und um unchristliche Vorurteile. Wir werden uns noch viel mehr bemühen müssen, die Vorurteile Fremden und Ausländern gegenüber abzubauen und solchen Menschen nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine mitmenschliche Heimat zu geben. Dazu bedarf es der Solidarität aller, auch der Bereitschaft zu einem innerstaatlichen Lastenausgleich. Es ist nicht hinzunehmen, daß Flüchtlinge und Einwanderer in ein Ghetto abgesondert werden. Sie brauchen Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben. Wir gehen auf eine Welt zu, in der die nationalen und politischen Grenzen durchlässiger werden. Wir brauchen noch wesentlich mehr Aufgeschlossenheit, christliche Nächstenliebe und Bereitschaft zum Teilen. Jeder Rückfall in eine nationale Überheblichkeit widerspricht dem Geist der Menschenrechte und ist zutiefst unchristlich. Auch das gehört zur neuen sozialen Frage.
(92) Die Lösung der neuen sozialen Frage muß durch eine Vielzahl von Kräften und Initiativen angestrebt werden. Wenn der Mensch als Person "Ursprung, Träger und Ziel" des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ist, dann bedeutet das auch seine unmittelbare Verpflichtung zur Mitarbeit an der Lösung der neuen sozialen Frage. Das gilt sowohl für die Gestaltung seines eigenen Lebens als auch für die Lösung sozialer Probleme. Die Bevormundung des Menschen durch den Staat führt nicht nur zu einer Entstellung der Gesellschaft, sondern auch zu einer Entwürdigung der menschlichen Person. Ohne die persönliche Initiative können gesellschaftliche Probleme nicht menschengerecht gelöst werden. Das ist in aller Deutlichkeit festzuhalten.
(93) Ebenso klar muß herausgestellt werden, daß der Einzelmensch in der Verwirklichung seiner Lebensgestaltung und seiner mitmenschlichen Verantwortung der Hilfe der Gesellschaft bedarf. Wir wollen hier bewußt nicht sofort auf die staatliche Hilfe verweisen. Die katholische Soziallehre ist keineswegs gegen das organisierte Gruppeninteresse. Sie weiß aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sehr wohl um die ordnende Kraft der gesellschaftlichen Gebilde und Organisationen. Wo aber gesellschaftliche Verbände zu Machtzentren erstarren und die Sorge für ihre Mitglieder und für das Gemeinwohl hintansetzen, stellen sie selber ihre eigene Existenz in Frage. Wo sie aus Gruppenegoismus die berechtigten Interessen anderer Gruppen behindern, hören sie auf, gesellschaftliche Ordnungskräfte zu sein, und werden zur Bedrohung des Gemeinwohls. Wir betonen dies, weil auch in Österreich die Gefahr besteht, daß durch die Erstarrung gesellschaftlicher Verbände und Strukturen die neue soziale Frage nicht hinreichend gelöst, sondern verschärft wird.
Vor wenigen Jahren hat Johannes Paul II. die Herausforderung der neuen sozialen Frage eindrucksvoll zusammengefaßt: Das heute so notwendige Bewußtsein der Solidarität "hängt wesentlich von der Fähigkeit der gesellschaftlichen Verbände und Organisationen ab, ihren Mitgliedern eine glaubwürdige Erfahrung der Mitverantwortung und des Dienstes zu vermitteln. Sie dürfen nicht selber zu bürokratischen Systemen erstarren, die zu einer sozialen Entfremdung des Menschen führen und seine konsumistische Einstellung der Gesellschaft gegenüber steigern. Man kann vom Menschen nicht eine voll entfaltete Solidarität gegenüber dem Staat und der internationalen Gemeinschaft erwarten, wenn sie nicht vorher auf der Ebene der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen erfahren und praktiziert wurde."[50]
(94) Über eines besteht kein Zweifel: Das für die Lösung der neuen sozialen Frage so notwendige Gemeinwohl ist nicht das automatische Ergebnis der rivalisierenden Gruppeninteressen und auch nicht des Marktmechanismus. Dazu bedarf es auch des ethisch orientierten sozialpolitischen Handelns des Staates. Weil die Lösung der neuen sozialen Frage nicht einseitig auf den Staat abgewälzt werden darf, sondern den unabdingbaren Beitrag des Einzelmenschen und der gesellschaftlichen Kräfte wie Verbände und Organisationen verlangt, muß mit umso größerer Deutlichkeit auch die Tätigkeit des Sozialstaates eingefordert werden. Es ist nicht Aufgabe des Sozialstaates, einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen ihre Selbstverantwortung abzunehmen. Es ist ebenso nicht eine Aufgabe, die bereits gesellschaftlich Mächtigen durch staatliche Förderung noch mächtiger werden zu lassen.
(95) Aufgabe des Sozialstaates ist es, Diskriminierungen abzubauen und zu verhindern, Lasten gerechter zu verteilen und dahin zu wirken, daß die menschengerechten Lebenschancen allen zugänglich werden; daß gerade jenen einzelnen und Gruppen geholfen wird, die Minderheiten darstellen und über keine wirksame Organisation verfügen. Der Sozialstaat muß jene Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die für das Gemeinwohl notwendig sind, über den Markt und die Gruppeninteressen aber nicht hinreichend erstellt werden können.
Es geht also keineswegs darum, den Sozialstaat wahllos auszubauen und damit zu überlasten. Wohl aber geht es immer wieder um die kritische Überprüfung bisheriger Ziele und Leistungen und um den Mut zu neuen sozialen Initiativen. Weil sich die neue soziale Frage nicht mehr in erstarrten Fronten, sondern in einer Vielfalt von persönlicher Not und Gruppennot darstellt, braucht es einen Sozialstaat, der imstande ist, spezifische Not zu erkennen und mit gezielten Maßnahmen zu helfen. Im Blick auf künftige Entwicklungen im Zusammenhang mit der Integration Europas wird es auch Aufgabe des Staates und der Staaten sein, in allen Ländern für soziale Mindeststandards zu sorgen.
(96) Zweifellos kann und muß der Sozialstaat Not lindern und soziale Gerechtigkeit schaffen. Aber er stößt an Grenzen: Je gruppenspezifischer und vielfältiger die sozialen Probleme werden, umso weniger reichen staatliche Mittel und Maßnahmen. Menschen in Not brauchen nicht nur materielle Hilfe. Sie brauchen Zuwendung, Geborgenheit und Freundschaft. Wir werden in Zukunft noch mehr an freiwilliger und nachbarschaftlicher Sozialhilfe brauchen, um die neue soziale Frage zu lösen. Wir sagen bewußt: noch mehr, weil wir wissen, daß bereits Eindrucksvolles geschieht. Wir werden aber noch mehr freiwillige Initiativen zur Behebung sozialer Not brauchen: für unsere Alten und Kranken, für gefährdete Jugendliche, für Drogenabhängige und Haftentlassene, für gesellschaftliche Grenzschichten, für Flüchtlinge und Gastarbeiter. Es muß freilich auch hier ein Konzept wirksamer finanzieller Absicherung und unterstützender Einrichtungen gefunden werden.
(97) Wir wissen uns als Kirche dabei unmittelbar herausgefordert. Zweifellos geschieht von seiten der Gläubigen schon sehr viel. Wir dürfen stellvertretend für viele andere Werke auf die segensreiche Tätigkeit der Caritas hinweisen. Wir werden uns aber in Zukunft noch entschiedener engagieren müssen. Gerade weil sich die neue soziale Frage nicht mehr in den Formen des früheren Klassenkampfes äußert, sondern in vielfacher Not vieler einzelner Menschen und gesellschaftlicher Gruppen, bedarf es neben dem Sozialstaat des sozialen Dienstes vieler Menschen, die sich aus christlicher Nächstenliebe für die Vermenschlichung der Gesellschaft einsetzen. Denn alles, "was die Menschen zur Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen tun, (ist) wertvoller als der technische Fortschritt".[51]
6. Entwicklung und Frieden
(98) "Heute ist - darüber müssen sich alle klar sein - die soziale Frage weltweit geworden", stellte Papst Paul VI. in seinem Sozialrundschreiben über den Fortschritt der Völker fest.[52] Wenn der Mensch "Ursprung, Träger und Ziel" von Wirtschaft und Gesellschaft ist, dann gilt diese Aussage nicht nur für de Industrieländer, sondern ebenso für die Entwicklungsländer. Es müssen auch dort Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß der Mensch "mehr Mensch" werden kann. Gott kann nicht ein zweifaches Abbild seiner selbst gewollt haben: eines, das in seiner Menschenwürde geschützt und verteidigt wird, und ein anderes, das entstellt und geknechtet ist.
(99) Wenn wir heute zur Lösung der weltweiten sozialen Frage verpflichtet sind, dann stehen wir in Österreich zunächst vor der besonderen Verantwortung für die Länder Ost-Mitteleuropas. Die Kirche in Österreich muß sich aufgrund ihrer Geschichte und ebenso aufgrund der geographischen Nähe in besonderer Weise für diese Länder verantwortlich fühlen. Diese neue Herausforderung stellt für sie selber auch in religiöser, geistiger und kultureller Hinsicht eine Bereicherung dar. Wir werden darum alles tun müssen, unseren Brüdern und Schwestern im Osten materiell und ideell helfen. Wir müssen ihnen aber auch Dienste für die so dringende Evangelisierung angesichts der neugewonnenen Freiheiten anbieten.
(100) Diese große Aufgabe darf aber in keiner Weise unsere Verantwortung für die Entwicklungsländer ablenken oder schwächen. Man wirft den Entwicklungsländern oft vor, daß sie weithin selbst an ihrem Elend schuld seien: durch ihre wirtschaftliche Rückständigkeit, durch die politische Korruption, durch das asoziale Verhalten der eigenen Völker, durch die mangelhafte Bildung. Die katholische Soziallehre weiß um solche Probleme und erwartet - je nach der sehr unterschiedlichen Situation der einzelnen Länder - auch von den Entwicklungsländern tiefgreifende Reformen. Die größere Verpflichtung liegt aber zweifellos bei den Industrieländern, weil "die größere Verantwortung bei dem liegt, der mehr hat und mehr kann".[53] Johannes Paul II. geht noch einen Schritt weiter. Er sagt, daß die Industrieländer mit schuld sind am Elend der Entwicklungsländer. Denn ihre wirtschaftlichen Strukturen sind so organisiert, daß sie immer zum Vorteil der Industrieländer gereichen. Als Beispiele führt der Papst unter anderem die unerträgliche Verschuldung der Entwicklungsländer und den Protektionismus der Industrieländer an. Nach wie vor werden gigantische Summen für Rüstung vergeudet, die für die Entwicklung der Völker fehlen.
(101) Diesen Zustand bezeichnet Johannes Paul II. als sündhaft und die dahinter stehenden Strukturen als "Strukturen der Sünde". Er erklärt mit aller Entschiedenheit: In einer solchen sittlich verfehlten Grundhaltung gibt es keinen anderen Ausweg als eine tiefgreifende persönliche Umkehr und Bekehrung: aus der Haltung der Habsucht und Herrschsucht zu einer Haltung der Solidarität - das neue Wort für Frieden.
Ausdruck solcher Solidarität ist die selbstlose Arbeit unserer Missionare, Brüder, Schwestern und Entwicklungshelfer, wie auch der Einsatz aller jener, die sich im eigenen Land für einen notwendigen, aber auch mühsamen Bewußtseinswandel einsetzen. Einen bedeutenden Beitrag zur Solidarität mit den Menschen in den Entwicklungsländern stellen auch großmütige freiwillige Spenden dar. Wir müssen aber feststellen, daß die Republik Österreich selbst unter den Geberländern weit hintansteht. Mit aller Dringlichkeit appellieren wir darum nicht nur an die Bevölkerung, in der Bereitschaft zum Teilen nicht nachzulassen. Wir fordern vor allem auch auf, für einen größeren Beitrag des Staates zur internationalen Solidarität einzutreten. Im Bereich der Kirche werden wir selbst uns bemühen, daß kirchliche Einrichtungen und Gemeinschaften ihrer weltweiten Verantwortung noch stärker gerecht werden.
Es darf uns nicht nur darum gehen, wie wir unseren Wohlstand vermehren und unsere soziale Sicherheit ausbauen können, auch nicht ausschließlich darum, wie wir uns in dieser geschichtlichen Stunde um die neue Einheit Europas bemühen. Die größere Herausforderung ist die Not der Entwicklungsländer. Vielleicht werden der Ernst und die Aufrichtigkeit unserer gesellschaftlichen Verantwortung am Beginn des dritten Jahrtausends daran gemessen werden, wie wir es mit dieser Herausforderung gehalten haben.
(102) In der Welt von heute ist ein neues Bewußtsein für den Frieden wachgeworden. Die Menschen haben erfahren, wie grausam und sinnlos die Kriege unseres Jahrhunderts waren. Sie wissen aber ebenso, daß trotzdem neue Kriege vorbereitet und Atomwaffen produziert werden, die eine Bedrohung der ganzen Menschheit darstellen. Auch sogenannte christliche Staaten sind zu Waffenproduzenten geworden, die durch den Waffenhandel schnelle Profite erzielen.
(103) Christen nehmen das Beispiel und die Friedensbotschaft Christi ernst und wollen dazu beitragen, daß weltweit Krieg und Kriegsvorbereitung geächtet, und Wege des Friedens gesucht werden. Auch in Österreich beteiligten sich viele Christen am Einsatz für den Frieden. Wir wollen ihren Einsatz anerkennen und sie zur Weiterarbeit ermuntern. Wir begrüßen, daß die Angehörigen des Bundesheeres ihren Dienst zum Schutz der österreichischen Neutralität und im Dienst der Vereinten Nationen als Beitrag zur Erhaltung des Friedens verstehen.[54]
Die erfreuliche Entwicklung mit dem Abbau der für unüberwindlich gehaltenen Grenzen sowie Fortschritte in den Abrüstungsbemühungen machen die Suche nach Frieden keineswegs überflüssig. Österreich hat aufgrund seiner Geschichte und der Erklärung seiner immerwährenden Neutralität eine besondere Sendung in der Vermittlung des Friedens. Die Christen sollen sich dieser Aufgabe in besonderer Weise bewußt sein, denn an sie ist der Auftrag ergangen, dahin zu wirken, daß sich das Wort des Propheten erfülle: "Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg" (Jes 2,4).[55]